»Eine Stadt für Alle? Nicht mit uns!«

Wie die links-grün-alternative Szene die Segregation in Großstädten befördert

»Eine Stadt für Alle? Nicht mit uns!«

Wie die links-grün-alternative Szene die Segregation in Großstädten befördert.

von Rainer Balcerowiak

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Die soziale Spaltung in Deutschland wird umfassend und fortlaufend dokumentiert. Unzählige Parameter, von Vermögensverteilung und Medianeinkommen über den Zugang zu Bildung und Kultur bis hin zu Wohnverhältnissen, infrastruktureller Versorgung und Gesundheitsrisiken belegen eindrücklich das Auseinanderdriften einer seit Jahrzehnten vom Neoliberalismus gebeutelten Gesellschaft.

In den großen Metropolen ist diese Entwicklung wie unter einem Brennglas zu beobachten. Das Ende des rheinischen Aufschwung-Kapitalismus und der sozialdemokratischen Wohlfahrts- und Aufstiegsgesellschaft wurde bereits in der Ära Helmut Kohl eingeleitet, von der ›rot-grünen‹ Schröder-Fischer-Regierung konsequent brutalisiert und auf dieser Basis in der Ära Merkel weitergeführt.

Nun ist soziale Segregation in Großstädten wahrlich kein neues Phänomen. Seit Beginn der Industrialisierung gab es Arbeiterviertel bis hin zu Elendsquartieren, Stadtteile für das mittlere und gehobene Bürgertum, exklusive Enklaven für die Reichen und Mächtigen und ein mehr oder weniger pulsierendes kulturelles Leben in den Innenstädten. Doch die Grenzen dieser Soziotope haben sich in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verschoben. Viele ehemals bürgerliche Viertel verlieren ihren Glanz und verkommen allmählich, ehemalige Arbeiterquartiere werden zu Hotspots der Immobilienspekulation und im Zuge ihrer Aufwertung zu angesagten Sehnsuchtsorten für Zuzügler, was einen enormen Verdrängungsdruck auf die angestammten Bewohner entfaltet. Die weitgehende Deindustrialisierung vieler innerstädtischer Quartiere sorgte für zusätzliche Schubkraft. Aus Umspannwerken, Werkshallen, Brauereien u.v.a.m. wurden schicke Lofts, angesagte Clubs, Event-Locations und Konsumtempel. Jenseits dieser sozioökonomischen Prozesse, die relativ einfach auf die realen Macht- und Besitzverhältnisse in einer kapitalistischen Klassengesellschaft zurückzuführen sind, hat sich vor allem in Großstädten eine neue, soziokulturellen Form der Segregation entwickelt, die den traditionellen linken Klassenmustern nicht mehr ohne weiteres entspricht. Dabei geht es um Identitätsfragen wie Herkunft, Aussehen, Religion, sexuelle Orientierung, Lebensstil, Arbeitsformen, Freizeitverhalten u.a.m. Prämissen, die zu entsprechenden Konflikten mit den jeweils ›Anderen‹ führen und neue Formen, auch räumlicher Segregation, befördern.

 

Die Stadt als Spielwiese urbaner Citoyens

Doch »grau ist alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz« wusste schon der große Duisburger Fußballspieler, -trainer und -philosoph Alfred ›Adi‹ Preißler. Man kann die Segregation sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen – wenn man sich auf diese ›unwissenschaftliche‹ Ebene einlässt. Einmal in der Woche fahre ich mit dem Fahrrad quer durch Berlin, von Moabit nach Nord-Neukölln, zu einer Redaktionssitzung. Es dauert nur rund 45 Minuten, ist aber eine kompakte Reise durch die städtebaulichen, sozialen und soziokulturellen Brüche dieser Stadt. Berlin dürfte zwar nicht das einzige, aber mit Sicherheit eines der krassesten Beispiele für die beschriebenen Prozesse sein. Zumal es sich nicht nur um die mit Abstand größte deutsche Stadt, sondern und ihr politisches Zentrum handelt und um ein Gemeinwesen, das von einer in der Wählergunst anscheinend stabilen ›rot-rot-grünen‹ Koalition regiert wird. Eine Konstellation, die besonders für viele Anhänger der Linken ein strategisches Ziel auf allen politischen Ebenen, also auch im Bund, darstellt.

Los geht‘s. Von meiner Wohnung aus geht es fix zur Spree, wo der gut ausgebaute, von neuen, teuren Kaffees gesäumte Radweg fest in der Hand der mit High-Tech-Kontrollgeräten durch die Gegend joggenden Selbstoptimierenden ist, hauptsächlich Frauen. Versonnen schweift der Blick auf die andere Flussseite, zu den großen Balkonen und Dachterrassen der Eigentumswohnungen in den aufwändig sanierten, hochherrschaftlichen Altbauten. Man spürt an diesem Spreeabschnitt, dass der zu Mauerzeiten als ›Randgebiet‹ abgehängte Schmuddelbezirk Moabit ins Zentrum der Stadt gerückt ist. Kanzleramt, Reichstag, Bundestagsgebäude und Brandenburger Tor sind hier schon fast in Sichtweite.

Auf der Höhe von Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, verlasse ich die Spree und biege in den Tiergarten ein, der sich am frühen Nachmittag eher ruhig präsentiert und seine existenzbedrohende Krise durch inzwischen eingestellte jährliche Zusammenkünfte von hunderttausenden Techno-Jüngern (›Love Parade‹) erstaunlich gut überstanden hat. Nur die Zahl der inferioren E-Scooter, auf deren Aussterben ich im Zuge der Corona-Krise gehofft hatte, ist wieder signifikant gestiegen. Aber noch nicht so bedrohlich wie im vergangenen Jahr, dem weitgehenden Zusammenbruch des Tourismus sei Dank. Ein ähnliches Bild am Potsdamer Platz, den ich jetzt queren muss. In ›normalen‹ Sommern ist dort kaum ein Durchkommen, jetzt verlaufen sich kleinere Touristengruppen und ein paar Angestellte der zahlreichen dort angesiedelten Behörden und Dienstleistungsbetriebe in der architektonischen Ödnis. ›Normale‹ Berliner kommen hier nicht hin, was sollen sie da auch?

Jetzt bin ich in Kreuzberg. Nach einem kleinen Stück Stresemannstraße mit Blick auf den imposanten Martin-Gropius-Bau biegt man am Anhalter Bahnhof in den erst vor einigen Jahren eröffneten Gleisdreieck-Park ein, der längst zu einem Hotspot der etwas feineren Flaneure geworden ist und in den vergangenen Wochen auch durch einige ›Corona-Parties‹ für gewisses Aufsehen sorgte. In luftiger Höhe überquert man auf stillgelegten Gleisbrücken einige Hauptstraßen und kann über den dort zu beobachtenden Dauerstau nur müde lächeln. Die noblen Häuser der ›Möckernkiez Genossenschaft‹, wo sich Betuchte ein großes Filetstück für ihren Wohntraum angeeignet haben und das sogar noch als ›gemeinwohlorientiert‹ etikettieren, lasse ich links liegen. Hinter der Dudenstraße – wir sind jetzt in Tempelhof – muss ich die sehr schöne, grüne Radroute verlassen. Schließlich geht es entlang einiger unscheinbarer Sozialblöcke in ein gut bürgerliches Siedlungsviertel, in dem sich, mit einem großen Schild unübersehbar präsentiert, auch die kleine Buchdruckerei der Familie von Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller befindet. Und schließlich erreicht man eine riesige (280 Hektar), nur spärlich und struppig bewachsene Asphaltwüste, die sich dennoch aufgrund ihrer Größe, Weite und Offenheit zum Eldorado für die hippe Freizeitgesellschaft entwickelt hat. Das ist der ehemalige Flughafen Tempelhof, ein geschichtsträchtiger Ort, geprägt vom Faschismus und vom Kalten Krieg in den Westberliner Nachkriegsjahren. Eigentlich sollten am Rand des Feldes rund 5000 Wohnungen entstehen und das Areal auch ein bisschen gestaltet werden. Doch die links-grün-alternative ›Stadtgesellschaft‹ hat das mit einem erfolgreichen Volksentscheid verhindert, was auch zur Initialzündung für Neubauverhinderer in allen Teilen der Stadt wurde und die Stadtentwicklung bis zum heutigen Tag erheblich behindert.

Bei schönem Wetter ist hier einiges los. In erster Linie hippes Volk, aber auch arabische und türkische Familien aus den umliegenden Wohngebieten. Deren jugendliche Kids sind hier kaum, die findet man eher in der angrenzenden Hasenheide, die auch ein wichtiger Drogenumschlagsplatz ist. Auf dem Tempelhofer Feld findet man natürlich auch ein bisschen Alternativgedöns, etwa Outdoor-Yoga, Meditationsgruppen und ein wenig ›Urban gardening‹. Ich fahre weiter und durchquere das Feld schnurstracks auf der alten Start- und Landebahn und muss dabei stets auf der Hut sein, nicht von durchgeknallten Skitern und Skatern umgemäht oder von den Schnüren imposant großer Drachen erdrosselt zu werden.

 

Durch den Alternativ-Kiez ins Kalifat

Auf der anderen Seite ist man schlagartig im Altstadtkiez von Neukölln, noch vor 25 Jahren eine der verkommensten und ärmsten Ecken der Stadt, inzwischen aber beträchtlich aufgewertet. Das verlief wie fast immer. Erst kam die alternative und linke Szene mit ihren Kneipen, Bars, Läden, Stadtteil- und Kulturgruppen und ihrem Lebensgefühl. Dann kamen irgendwann die Investoren und Spekulanten, die das Aufwertungspotenzial erkannten und rigoros nutzten. Jetzt droht der Szene die Verdrängung, die legendäre linke Kiezkneipe ›Syndikat‹ in der Weisestraße wurde vor einigen Wochen mit einem martialischen Polizeiaufgebot zwangsgeräumt, weil ein Investor andere Pläne mit den Räumlichkeiten hat. Aber noch wirkt das – zumindest an der Oberfläche – wie ein klassischer ›Alternativkiez‹ mit Protestplakaten an Häusern, linken Graffitis an den Wänden und relaxter Straßenkultur.

Weiter, immer weiter geradeaus. Schnell erreicht man die Hermannstraße, die man als Fahrradfahrer nur überqueren, aber niemals benutzen sollte, wenn einem sein Leben lieb ist. Hier endet das hippe Neukölln, hier wird es härter, ärmer und kaputter. In den tristen Sozialbaublöcken entlang der Werbellinstraße ballen sich die Gestrandeten und Abgehängten. Schließlich erreiche ich die Karl-Marx-Straße, seit jeher eine Einkaufsmeile, die in ihrem Mittelteil aber derzeit eine surreal anmutende, riesige Dauerbaustelle ist.

Jetzt bin ich fast schon am Ziel. Noch ein Stück geradeaus, einmal links, einmal rechts, und da ist sie, die Sonnenallee, die man getrost als urbanen Albtraum bezeichnen kann. Aber auch als eine Art Lebensader einer anderen Lebenswelt. Vor ein paar Minuten radelte ich noch an Imbissen mit ›veganen Spezialitäten aus dem Sudan‹, stylischen Cafés und Bio-Läden vorbei, jetzt sind es Shisha-Bars, Wettbüros, allerlei obskure Gemischtwarenläden und aufgrund der arabischen Außenreklamen schwer zu identifizierende Gewerbebetriebe und Treffpunkte. Hier bestimmen nicht mehr leger-alternative Streetwear, sondern Bärte und auch Kopftücher das Bild. Hier schnappt man auf der Straße anders als im hippen Neukölln keine englischen oder spanischen Sprachfetzen mehr auf, sondern türkische und arabische. Hier sieht man kaum noch Fahrräder, dafür aber erstaunlich viele, sehr große, sehr teure Autos mit sehr jungen Fahrern. Hier fühlt man sich – ob man will oder nicht – wie in einem Paralleluniversum, das den meisten Menschen, die ich am Spreeweg, am Potsdamer Platz, im Gleisdreieck-Park, im betulichen Tempelhof und auf dem Tempelhofer Feld gesehen habe, vermutlich vollständig oder weitgehend unbekannt ist. Wobei die soziale und soziokulturelle Segregation in vielen Stadtteilen immer kleinteiliger geworden ist, die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen verlaufen manchmal von Häuserblock zu Häuserblock. Überquert man die Sonnenallee in Richtung Treptow und Friedrichshain-Kreuzberg, dann wird es sehr schnell wieder kuscheliger, alternativer und bürgerlicher mit Cafeś, neu gestalteten Parkanlagen und Uferpromenaden am alten Schifffahrtskanal nebst guter Fahrradinfrastruktur. Prompt wechselt auch nahezu komplett die ›Straßenbelegschaft‹ und das nur einige hundert Meter von jenem Teil der Sonnenallee entfernt, den ich und einige andere  – nur halb scherzhaft gemeint – gerne auch als ›Kalifat‹ bezeichnen.

Aber dort bin ich am Ziel meiner Dienstfahrt. Denn genau hier befindet sich die größte Niederlassung der Berliner Mietergemeinschaft, in der wir die Redaktionssitzungen für ihr Verbandsmagazin durchführen, auch im Sommer bei geschlossener Tür, denn draußen ist es laut. Die dauern in der Regel zwei bis zweieinhalb Stunden. Dann fahre ich wieder zurück, durch die anderen Welten und schließlich in meinen eher unspektakulären Kiez in Moabit. Ich sage nicht, dass der besser ist. Aber anders.

 

Segregation wird immer kleinteiliger

Wirklich? Auch hier sind die auf meiner ›großen Fahrt‹ beobachteten Prozesse mittlerweile an jeder Ecke greifbar, wenn auch nicht so krass wie in Neukölln. Wie sein Nachbarbezirk, der ehemals ›Rote Wedding‹, der bei kitschig – nostalgisch- sentimentalen linken Kulturevents immer noch gerne besungen wird, hat sich auch Moabit zu einem extrem diversifizierten Stadtteil entwickelt. Mit explodierenden Mieten und Immobilienpreisen auf der einen und einer extrem hohen Armutsquote auf der anderen Seite, teilweise auch räumlich trennscharf voneinander abgegrenzt. Während die Obdachlosen-Notunterkunft der Stadtmission in der Lehrter Straße (unweit des Hauptbahnhofs) regelmäßig aus allen Nähten platzt, tummeln sich ein paar Blocks weiter junge, betuchte Entrepreneure aus der Kreativ-, IT- und Medienszene aus allen Teilen der Welt in einem neuen, schicken Hochhaus der ›Quarters‹-Gruppe und mieten dort Mini-›WG-Zimmer‹ für 700 Euro pro Monat und mehr, bevor sie nach ein paar Monaten in eine andere Metropole ziehen. Während sich in der aufgemotzten ›Markthalle‹, die von einem traditionellen Nahversorger zu einer Event-Location mit ein bisschen ›Alt-Berliner‹ Marktkulisse umgestaltet wurde, Gäste von geschlossenen Unternehmensparties oder offenen Gourmet-Veranstaltungen an edlen Genüssen laben, treffen sich quasi direkt gegenüber im Ottopark und dem angrenzenden Kleinen Tiergarten Junkies, gestrandete Alkoholiker und Obdachlose zu ihren täglichen ›Meetings‹. Während sich in meiner Straße die ›besseren‹ Moabiter eine katholische Privatschule als ihr Refugium gesichert haben, geht auf dem großen, öffentlichen Spielplatz zwei Blocks weiter abends regelmäßig die Post ab, bis hin zu äußerst handfesten Auseinandersetzungen zwischen irgendwie verfeindeten Gruppen aus migrantischen Milieus. Während in einigen Straßen schicke neue Läden und Cafés aufgemacht haben, ist die Turmstraße, die traditionelle Lebensader des Bezirks, die früher von Kaufhäusern und Fachgeschäften gesäumt war, weitgehend zu einer verkommenen Ramschmeile degeneriert, mit jeder Menge Wettbüros, Handy-Shops, Nagel-Studios, Billig-Imbissen und was sonst noch so dazugehört. Sozusagen als soziale Pole gibt es noch ein paar Discounter, ein paar Bio-Supermärkte und viele türkische und arabische Lebensmittelgeschäfte, aber keinen einzigen klassischen Fleischer oder Bäcker mehr.

Längst haben sich dazu auch in Moabit Parallelwelten verfestigt, von denen man wenig weiß und wohl meistens auch gar nicht wissen will. Um die Drogenszene in den Parkanlagen macht man halt einen Bogen, die chaotischen Zustände in vielen Schulen tangieren nur die unmittelbar Betroffenen und dass mitten im Kiez jahrelang ein Hotspot der islamistischen Gewalt-Szene, die inzwischen geschlossene Fussilet-Moschee, blühen und gedeihen konnte, war wohl den Wenigsten bewusst und geriet erst in den Fokus, als die Verbindungen des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri dorthin bekannt wurden. Die Flüchtlingskrise, in der die chaotischen Zustände an der zentralen Aufnahmestelle LaGeSo dem Stadtteil Moabit zu bundesweiter Berühmtheit verhalfen, ist kaum noch ein Thema – obwohl in Berlin noch immer rund 20.000 Geflüchtete zusammengepfercht in Sammelunterkünften statt in Wohnungen leben müssen – weil es schlicht zu wenig Wohnungen gibt. Die links-alternative Stadtgesellschaft widmete sich dem Thema mit großer Empathie – inzwischen ist es unter ›Sonstiges‹ abgeheftet, und man kümmert sich wieder verstärkt der Sicherung und dem Ausbau der eigenen Soziotope.

Die linke Losung ›Eine Stadt für Alle‹ ist längst zu einer öden Worthülse verkommen, die von großen Teilen der links-alternativen Stadtgesellschaft eher in dem Sinne verstanden wird: »Ein Stück Stadt für mich und meinesgleichen«. Doch diese eloquente, sich selbst ermächtigende ›Stadtgesellschaft‹ bestimmt in vielen Fragen den politischen Diskurs in der Stadt und ist zudem mit vielen wichtigen Akteuren der ›rot-rot-grünen‹ Landesregierung bestens vernetzt. Einzig die Mieterbewegung konnte sich besonders in Berlin zumindest in Teilen als breite, soziale Widerstandsbewegung etablieren und auch gewisse Erfolge erzielen, wie etwa den Mietendeckel.  Doch auch das ist von erheblichen Widersprüchen geprägt, denn die ›Neubaufeindlichkeit‹, besonders in innerstädtischen Quartieren, ist in dieser Bewegung ein wichtiger Faktor, unter dem Motto: »Was kümmern uns die 60.000 Wohnungslosen in der Stadt – wir wollen unsere  Wohnungen in einem uns genehmen Umfeld behalten«. Kein Neubau soll diese Kiez-Idylle stören, keine ›Normalos‹ die soziokulturelle Hegemonie gefährden.

 

Es ginge auch anders

Besonders Grüne und Linke tun viel, um diese wichtige Wählerklientel bei Laune zu halten. Der Senat hat unzählige Spielwiesen der ›Partizipation‹ geschaffen und so manch Mieteraktivisten auf die Payroll der Stadt oder Bezirke genommen. Er steckt viel Geld in den Vorkauf von durch Spekulanten bedrohter, einzelner Häuser, wenn die jeweiligen Hausgemeinschaften laut und eloquent genug sind. Nach dem Ausbruch der Corona-Krise wurden Milliarden Euro aus der Gießkanne über die in Berlin besonders zahlreichen, prekären Selbstständigen in der Alternativ-, Kreativ- und Kulturszene ausgeschüttet. Bislang geht das politische Kalkül auf. Die Parteien der ›rot-rot-grünen‹ Koalition liegen in den Umfragen weiterhin deutlich vorne, voraussichtlich kann das Bündnis nach der Wahl im September 2021 in Berlin weiter regieren.

Doch was ist eigentlich mit den sozialen Kernfragen in der gespaltenen Stadt? Wo sind die Entwürfe zur Überwindung der Segregation und der wuchernden Parallelgesellschaften?  Wie soll und kann die postulierte ›Stadt für Alle‹ aussehen, und wie kann das erreicht werden? Auf diese entscheidenden Fragen gibt es auch von linker Seite jenseits des üblichen Wortgeklingels kaum kohärente Antworten.

Natürlich muss man sich vergegenwärtigen, dass zentrale Weichenstellungen für eine soziale Stadtentwicklung im umfassenden Sinne auf Bundesebene erfolgen müssen, da den Ländern und erst recht den Kommunen dafür die Kompetenz und die Mittel fehlen. Das betrifft vor allem Fragen der Vermögensverteilung, aber auch des Boden- und Mietrechts. Mit seinem landesrechtlichen ›Mietendeckel‹ testet das Land Berlin derzeit die Grenzen aus. Eine endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wird für das kommende Jahr erwartet.

Die Liste der Stellschrauben für die Entwicklung einer ›sozialen Stadt‹, in der soziale und auch ethnische Segregation eingedämmt wird, ist lang. Die Lösung der Wohnungskrise ist dabei nicht der einzige Hebel, aber zweifellos einer der Wichtigsten. Es bräuchte zum einen ein umfassendes, kommunales Wohnungsbauprogramm, also eben nicht die bisher praktizierte temporäre Förderung einer Belegungs- und Mietpreisbindung, sondern einen möglichst rasch wachsenden Anteil von Wohnungen, die dauerhaft dem Markt entzogen sind. Da man den Privatbesitz an Grundstücken und Häusern nicht ohne weiteres abschaffen kann, muss auch in diesem Segment eine weitgehende Sozialbindung durchgesetzt werden, wofür das Baurecht durchaus Spielräume eröffnet. Vor allem müssen sich Kommunen auch mehr Einfluss auf die Wohnungsvergabe sichern, etwa durch die massive Ausweitung belegungsgebundener, geschützter Segmente für bestimmte, sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, auch und gerade in ›besseren‹ und/oder ›alternativen‹ Wohnvierteln.

 

Die am Rande sieht man nicht

Natürlich kann nicht jeder Bewohner und Zuzügler in den bevorzugten Stadtteilen der Metropolen leben, dafür mangelt es schlicht an Platz. Aber wenigstens sollten auch diejenigen, die dort leben und nicht zu den Begüterten und Eloquenten gehören, nicht in der permanenten Angst vor Verdrängung leben müssen, etwa durch Umwandlung ihrer Miet- in Eigentumswohnungen oder die Zweckentfremdung unzähliger Wohnungen durch touristische Beherbergung und Leerstand. Entsprechende Instrumente sind teilweise vorhanden, aber sie werden nicht konsequent angewendet, auch nicht im ›rot-rot-grün‹-regierten Berlin.

Fast noch wichtiger wäre es allerdings, jene übergroße Mehrheit der Großstadtbewohner, die jenseits der angesagten Innenstadtquartiere leben (müssen), endlich in den Fokus der Stadtpolitik zu nehmen. Auch dabei geht es um Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit. An der soziokulturellen ›Peripherie‹ mangelt es an so ziemlich allem, was das Leben dort attraktiv machen könnte. An engmaschigen, kurztaktigen Verkehrsverbindungen, an öffentlichen Räumen mit hoher Einkaufs- und Aufenthaltsqualität, an vielfältigen Freizeitangeboten, an einer diversifizierten Bildungslandschaft. Hier gibt es keine kulturellen und wissenschaftlichen ›Leuchttürme‹, keine Pop-Up-Fahrradwege, keine angesagten Clubs, keine ›alternative Stadtgesellschaft‹. Hier leben oftmals die, die man als urbaner Citoyen erst wahrnimmt, wenn sie bei der Wahl ihr Kreuz an der falschen Stelle gemacht haben, falls sie überhaupt teilgenommen haben oder sich in migrantischen Parallelgesellschaften formieren. Was man wiederum als Linker nicht problematisieren darf, weil das schnell als ›antimuslimischer Rassismus‹ oder ähnliches gewertet wird.

Eine wirkliche, strukturelle soziale und soziokulturelle Durchmischung der Stadtquartiere, also eine ›Stadt für alle‹ ist schlicht nicht gewollt. Das sagt zwar kaum jemand laut, aber es wird so gedacht und vor allem so gehandelt. Dabei mangelt es weder an Geld, noch an städtebaulicher, stadtsoziologischer, sozialer und wohnungspolitischer Expertise. Doch Berlin und andere Großstädte haben längst ein subtiles System der ›Gated Communities‹ etabliert, die sich im links- alternativen Neusprech dann ›Freiräume‹ nennen. Die Segregation hat Methode, und wer sie sehen will, sieht sie auch. Aber wer will das schon….

 

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Rainer Balcerowiak

Rainer Balcerowiak lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt regelmäßig für diverse Zeitungen und Magazine, unter anderem in seiner wöchentlichen ›Genuss ist Notwehr‹-Kolumne bei cicero online.