Corbyn in historischer Perspektive

Über die britische Labour-Linke und was ihre Geschichte vielleicht der deutschen Linken zu sagen hat

Corbyn in historischer Perspektive

von Christoph Jünke, Bochum

Leo Panitch & Colin Leys: Searching for Socialism. The Project of the Labour New Left from Benn to Corbyn, London (Verso) 2020, 310 Seiten.

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Eine solche Aufbruchsstimmung war selten und unerwartet und sie war wirklich echt, als der SPD-Parteivorstand im Januar 2017, nach Sigmar Gabriels Rücktritt vom SPD-Vorsitz, überraschend den bisherigen Europapolitiker Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten für die bevorstehende Bundestagswahl erwählte. Eine Welle der in breiten Teilen der Bevölkerung hör- und spürbaren Politisierung spülte mehrere Wochen lang nicht nur, aber vor allem junge Leute in die alte sozialdemokratische Partei, während sich die überraschten Medien verwundert die Augen rieben und vom ›Schulz-Effekt‹ sprachen. War nun vielleicht auch in Deutschland etwas möglich, wovon sie zuvor aus Großbritannien und den USA so ausgiebig berichtet hatten? War da ein deutscher Bernie Sanders oder gar ein deutscher Jeremy Corbyn auf die innenpolitische Bühne getreten?

Die damals mit Händen greifbare Aufbruchshoffnung erwies sich jedoch schnell als Illusion, der Hype als Strohfeuer. Schon bald war deutlich geworden, dass es der mit Verve vom sozialen und emanzipativen Aufbruch sprechende Schulz weniger mit Widerständen in der Bevölkerung zu tun hatte (die Umfragewerte waren ja deutlich in die Höhe geschnallt), als vielmehr mit eigenartig unsichtbaren Widerständen in den Führungsetagen seiner eigenen Partei. Vor allem die sozialdemokratische Wahlkampagne in Nordrhein-Westfalen verzichtete gar ganz auf den von ihr ignorierten Schulz und bremste ihren eigenen Kanzlerkandidaten geradezu aus. Die Hoffnung auf den sich endlich wieder bewegenden Parteitanker wurde also schnell enttäuscht, die Wahlzustimmung brach wieder ein, der Kandidat – offensichtlich ohne jede innerparteiliche Führungskraft und das bloße Aushängeschild einer politischen Werbekampagne, die andere inszeniert hatten – erschien als begossener Pudel, verlor seine Glaubwürdigkeit, wurde zur tragischen Witzfigur und zog sich schließlich weitgehend sang- und klanglos wieder zurück.

Auch Sanders und Corbyn sind letztlich an ihrer eigenen Partei gescheitert. Und doch währten ihre politischen Aufbruchskampagnen deutlich länger und wirkten nachhaltiger. Womit dies zu tun hat, verdeutlichen, am britischen Falle des Jeremy Corbyn, die Politikwissenschaftler Leo Panitch und Colin Leys in ihrem jüngsten Buch. Dort wo viele Zeitgenossen, zumal in Deutschland, nur an der Oberfläche des Politbetriebes bleiben, gehen die beiden Altmeister der angelsächsischen Neuen Linken mit dem geschärften historischen Blick langgedienter marxistischer Intellektueller ans Phänomen Corbyn heran. Schon vor einem Vierteljahrhundert hatten sie mit ›The End of Parliamentary Socialism‹ ein Buch über die Entwicklung der britischen Labour-Party von den 1960ern zu den 1990ern vorgelegt, das schnell zum Klassiker einschlägiger Forschungsliteratur wurde. Nun haben sie ihre dort niedergelegten Analysen nochmals kondensiert und die Geschichte bis zu Corbyns Anfang 2020 erfolgtem Rücktritt vom Parteivorsitz der britischen Sozialdemokratie weiterverfolgt. Herausgekommen ist ein lesenswertes Werk, das nicht nur den britischen Politikbetrieb in historischer Perspektive erhellt, sondern auch einige Vergleichsmöglichkeiten zum deutschen erlaubt.

Corbyn und das wofür er steht, waren nämlich alles andere als der Versuch einiger professioneller Parteistrategen, der eigenen Partei ein neues Werbeimage zu verordnen. Jeremy Corbyn war vielmehr »der Veteran des letzten nachhaltigen Versuchs, die [sozialdemokratische] Labour Partei für eine sozialistische Transformation tauglich zu machen« (Panitch/Leys, Übersetzung C.J.). Angesprochen ist damit nicht nur der spezifische Inhalt der Corbyn-Kampagne, sondern auch ihr überpersönlicher, historischer Charakter, denn auch wenn der sogenannte parlamentarische Hinterbänkler im Sommer 2015 scheinbar aus dem Nichts gekommen ist, so ist gerade dieser Eindruck gänzlich verkehrt. Schon Ende der 1990er Jahre hatte er sich neben Tony Benn zum wichtigsten Repräsentanten der Socialist Campaign Group gemausert, einer kleinen traditionsreichen Gruppe, die das Erbe der innerparteilichen Kämpfe der 1970er und 1980er, die politische Agenda einer Umwandlung der britischen Sozialdemokratie in ein demokratisch-sozialistisches Projekt, wachhielt.

Hatte sich die erste Generation der britischen Neuen Linken im Übergang zu den sechziger Jahren (vergleichbar der ersten westdeutschen Generation Neuer Linker: Agartz, Kofler, Pirker u.a.) von der sich vermeintlich oligarchisch verhärtenden und in das etablierte bürgerliche System integrierenden Sozialdemokratie konzeptionell abgewandt – 1961 veröffentlichte Ralph Miliband sein paradigmatisches Werk Parliamentary Socialism: A Study of the Politics of Labour – änderte sich dies mit der 1967/68 ansetzenden Jugendradikalisierung. Nicht wenige der älteren Neuen Linken blieben zwar auch weiterhin der auf technokratische Modernität setzenden Labour-Party gegenüber skeptisch, während viele der jüngeren Neuen Linken gar gänzlich neue, radikale Parteiaufbau-Wege gingen. Doch die schiere Masse der frisch Politisierten brachte auch in Großbritannien (vergleichbar der westdeutschen Situation unter dem 1969 neu gewählten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt) zahllose junge Linke in die Traditionspartei, wo sie sich mit den dort verbliebenen Alt-Sozialisten zu verbinden wussten. Es begann der Aufstieg einer spezifischen Labour-New-Left, die die beklagte Oligarchisierung der Parteipolitik durch eine programmatisch verstandene innerparteiliche Redemokratisierung rückgängig zu machen und auf diesem Wege die Aktivierung und Radikalisierung der Bevölkerung für einen demokratisch transformierten Parteiwandel zu nutzen versuchte. Vergleichbar den sozialdemokratischen Jungsozialisten in der BRD zielte man auf eine ›Doppelstrategie‹, die die verantwortliche Mitarbeit in Partei und Parlament mit einer parallelen Mobilisierung außerparlamentarischer sozialer Bewegungen zu verbinden und so zur Demokratisierung der Partei und der gesellschaftspolitischen Strukturen beizutragen gedachte.

In Westdeutschland regierten besondere Bedingungen, da Faschismus und Stalinismus die Arbeiterkultur nachhaltig zersetzten und entpolitisierten . Auch hatte die hierauf aufbauende, durch die doppelte Staatsgründung und den Kalten Krieg beflügelte antikommunistische und antisozialistische Staatsraison zu einer tiefgreifenderen Spaltung und Isolierung der linken Milieus geführt. In Großbritannien dagegen gelang es der Labour-New-Left (aufgrund einer etwas anderen Partei- und Gesellschaftstradition), sich tiefgreifender und nachhaltiger mit den Strömungen der Post-68er-Arbeitermilitanz und des in Großbritannien noch traditionell radikaler gesinnten Gewerkschaftsapparates zu verbinden. Es war der fest in der britischen Parteitradition verankerte Tony Benn, der diesem linkssozialdemokratischen Aufbruch seine Stimme und sein Gesicht geben sollte. Benn, alles andere als ein erklärter Marxist oder gar ein begnadeter politischer Organisator, stand, einem alten Volkstribun gleich, in der britischen Tradition der Dissenter, d.h. in der Tradition jenes alten radikaldemokratischen Populismus, den es im deutschen 20. Jahrhundert nicht gegeben hat. Niemals wurde er müde, die Bevölkerung der ›einfachen Menschen‹  ohne jeden elitären Vorbehalt zur Ermächtigung ihrer eigenen Kraft zu ermuntern. Und er verband sich mit dem stärker intellektuell, stärker organisationspolitisch agierenden Michael Foot und vielen anderen, die in den siebziger Jahren nach neuen Möglichkeiten industrieller, d.h. wirtschaftspolitischer Demokratisierung und (schon damals!) nach Wegen suchten, wie man sich für den europäischen Geist internationaler Solidarität engagieren kann, ohne damit gleichzeitig den Kampf gegen das schon damals real existierende Europa der Banker und Bürokraten aufgeben zu müssen.

Auch damals schon war ihre systematisch betriebene Campaign for Labour Party Democracy mit starken innerparteilichen Widerständen und einer immensen Medienkampagne gegen die neuen sozialistischen Reformisten konfrontiert. Viele lange Jahre und viel Arbeitskraft und Nerven brauchte es, um auch nur erste zarte Erfolge auf diesem Wege zu zeitigen. Doch der vor allem in Konferenzzimmern ausgetragene innerparteiliche Reformkampf sollte, indem er viel Personenkraft band, seinen Teil dazu beitragen, auch die programmatischen Alternativen nicht stärker öffentlich und hegemoniefähig werden zu lassen. Am Ende der ›roten siebziger Jahre‹ waren es (wie auch anderswo) die von der konservativen Margret Thatcher angeführten und aufgeputschten Kräfte einer marktradikalen Neuen Rechten, die der britischen Neuen Linken, auch denen innerhalb der Labour-Party, den Rang ablaufen sollten. Zwar gewann der Parteilinke Michael Foot noch 1980 den Kampf um den Parteivorsitz, nutzte diesen aber umgehend für einen Schulterschluss mit den Parteirechten, weil er unbedingt die Parteieinheit wahren wollte. Auf einer Welle der Radikalisierung versuchte Tony Benn nun, den rechten innerparteilichen Flügel dauerhaft zu besiegen – und scheiterte damit schon im Jahre 1981. Die britische Linke, auch die Parteilinke, war zu tief gespalten und der weltpolitische (und weltökonomische) Wind hatte sich gedreht. Links schlitterte man in eine nachhaltige Erosionskrise, während der unter dem neuen Parteiführer Neil Kinnock vollzogene lange Weg der Labour-Party nach rechts begann.

Panitch/Leys lassen diese Kämpfe und Debatten in der ersten Hälfte ihres Buches Revue passieren und verdeutlichen so die Wandlungen bis zu jenem historischen Bruch in den Neunzigern, als sich die Labour-Party unter Tony Blair auch formal zu New Labour, zu einer auch im Selbstverständnis umgeformten Marktsozialdemokratie (Oliver Nachtwey) wandelte, die das ›There is no Alternative!‹-Mantra der konservativen Thatcher-Ära übernahm. Und als Tony Benn, der große alte Mann der Labour-Linken, 2001 seinen altersbedingten Rückzug aus der Parlamentspolitik verkündete, ließ er mit feiner britischer Ironie verlauten, dass er sich nun endlich wieder mit mehr Freizeit der Politik widmen wolle…

Auch hier finden sich ebenso deutliche wie subtile Parallelen bspw. zur bundesdeutschen Entwicklung. Den Juso-Rebellen der roten siebziger Jahre gelang der Einbruch in die Alltagswelt der Arbeiterschaft nicht. In der sozialdemokratischen Partei blieben sie entsprechend isoliert und mussten sich am Ende jenes Jahrzehntes den innerparteilichen Repressionsmethoden ergeben. Ein nennenswerter Teil ihrer politischen Basis trat im Übergang zu den Achtzigern zur neuen, grün-alternativen Partei über, während die in der SPD verbleibenden Linken ihren Preis zu bezahlen hatten. Gerhard Schröder, der einstmalige Juso-Kämpfer gegen den Monopol- und Finanzkapitalismus verwandelte sich in den ›Genossen der Bosse‹. Der mit allen Waffen des Partei- und Verwaltungsapparates wohl vertraute Oskar Lafontaine sollte zwar noch den linken Ausbruch wagen, aber selbst dann nicht verstehen, dass linke, emanzipative Politik mehr mit der Selbstermächtigung von Menschen und weniger mit dem Strippenziehen in Bürozimmern und Medien zu tun hat. Peter von Oertzen schließlich, der noch am ehesten eine Jeremy Corbyn oder Tony Benn vergleichbare Rolle hätte spielen können, fehlte die radikaldemokratische Volkstradition und die daraus erwachsende Charakterfestigkeit. Auch er hatte sich aus taktischen Gründen in seiner Zeit des parteipolitischen Einflusses allzeit stark nach links abgegrenzt– und musste nach Schröders Machtübernahme am Ende, öffentlich eingestehen, dass dies ein Fehler und sein lebenslanges Projekt der Rückverwandlung der SPD in eine nach links offene sozialdemokratische Reformpartei historisch gescheitert war. Und zur gleichen Zeit, als der aus der aktiven Parlamentspolitik ausgetretene Tony Benn auf einer Londoner Anti-Globalisierungs-Konferenz die denkwürdigen Worte formulierte, dass er, je mehr er über die damals noch starke (trotzkistische) Socialist Workers Party nachdenke, »umso mehr realisiere, wie wichtig solche Elemente in jeder erfolgreichen politischen Bewegung sind«, verließ auch Peter von Oertzen die SPD und nahm erneut Kontakt auf zu den trotzkistischen Freunden seiner politischen Jugend…

Erfolg ist bekanntlich etwas Relatives. Hatte sich New Labour unter Tony Blair erfolgreich dem britischen Establishment anverwandelt, quittierten dies die in breiten Bevölkerungsteilen unausrottbaren Hoffnungen auf Emanzipation und Demokratisierung mit zunehmender Wahlenthaltung oder, schlimmer noch, mit der Wahl des konservativen Originals. Von Wahlniederlage zu Wahlniederlage ging der neue sozialdemokratische Weg auch in Großbritannien. Selbst der Versuch des Parteiapparates ging fehl, mit einem etwas linkeren Image in der Person des 2010 zum Parteivorsitzenden gewählten Edward Miliband (›Red Ed‹) – sozusagen einem Michael Foot 2.0, der allzeit im Schulterschluss mit der Parteirechten agierte, um bloß nicht die sakrosankte Parteieinheit zu gefährden – wieder in die Offensive zu kommen. Im Sommer 2015 schlug die Stunde Jeremy Corbyns und seiner letzten Parteiveteranen – anders als in Deutschland, wo die Politik der Schröder-SPD Jahre zuvor zu einer nachhaltigen Abspaltung der linken Traditionsreste und ihrer Fusion mit der ostdeutsch-postkommunistischen PDS geführt hatten.

Anders als im größer und moderner gewordenen Deutschland erlaubte das gänzlich veraltete britische Parlamentssystem Linken wie Corbyn das politische Überleben als parlamentarische Hinterbänkler. Und anders als hier provozierte, wie Panitch/Leys betonen, die durch die Ära Blair und durch die neue Weltwirtschaftskrise befeuerte politische und ökonomische Strukturkrise eine machtvolle Welle von Massenbewegungen gegen die neoimperialistische Kriegs- und die neoliberale Austeritätspolitik, die die sozialen Verwerfungen der britischen Insel politisierten und den Spielraum für die Linke aufs Neue öffneten. Je mehr sich der neue Parteivorsitzende Corbyn erfolgreich zu wehren begann, gegen die von Beginn an abermals starken parteiinternen Widerstände, umso stärker wurde die Begeisterung außerhalb der Partei. Der ruhige und bescheidene Corbyn verstand es, eine gesellschaftspolitische Basis für seine ebenso zurückhaltende wie bestimmte Reformbewegung zu mobilisieren. Seine (und seiner Mitarbeiter) programmatischen Aussagen waren zwar längst nicht so radikal, wie sie es in den roten Siebzigern gewesen waren, doch unter den britischen Verhältnissen wirkte ein Slogan wie ›For the Many, not the Few!‹ (›Für die Vielen, nicht für die Wenigen!‹) wie der sprichwörtliche Zunder.

In der zweiten Hälfte ihres Werkes lassen die beiden Autoren diese letzten fünf Jahre nochmal an uns vorüberziehen. Sie beschreiben nicht nur Corbyns politisch-persönliche Glaubwürdigkeit, sie rekapitulieren auch die massiven Widerstände, die ihm vor allem von den etablierten Medien und aus seiner eigenen Parlamentsfraktion entgegen schlugen  (bereits ein halbes Jahr nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden hatte er es mit einem ersten unverhüllten Putschversuch aus den eigenen Reihen zu tun). Sie verdeutlichen dabei, dass er sich nicht nur so lange hat halten können, weil die gesellschaftlichen Probleme eine entsprechende Tiefe akkumuliert hatten, sondern mehr noch, weil er nicht aus dem Nichts kam, sondern aus den politischen Kämpfen der vorhergegangenen Jahrzehnte und weil er es verstand, sich vor diesem Hintergrund mit dem Aufbruch einer gänzlich neuen Generation zu verbinden.

Gescheitert ist Corbyn, auch dies verdeutlichen die beiden, an den konservativen Beharrungskräften des parteipolitischen Parlamentsbetriebes – an einem strukturell oligarchischen, in sich korporatistisch abgeschlossenen politischen System, das schon die erste Generation neuer Linker als grundsätzlich vollzogene ›Involution der Demokratie‹ verstanden hatte. Unter ›spätkapitalistischen‹ (heute würde man sagen: ›postdemokratischen‹) Verhältnissen, so schon Ralph Miliband in den sechziger und siebziger Jahren, könne es keine Rückumwandlung der einstmals reformistischen Labour-Party mehr geben. Corbyns politische Biografie steht jedoch gerade für diese Hoffnung und er dachte, so Panitch/Leys, auch im Jahre 2015 offensichtlich noch, dass es ausreiche, immer wieder die Ernsthaftigkeit zu demonstrieren, mit der er die Partei zu reformieren und ein gegen die herrschende Austeritätspolitik gerichtetes neues Gesellschaftsprogramm zu propagieren gedachte, um damit auf lange Sicht erfolgreich sein zu können. Für diese Illusion hat er nun bitter bezahlen müssen, denn allein der lange Atem zu einer verbindenden Klassenpolitik reicht nicht aus für das, was er zweifelsohne wirklich zu erreichen suchte. Man muss diesen langen Atem auch zu verbinden wissen mit der schnellen und treffenden politischen Intervention, zumindest in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen. Und die zentrale Frage der britischen Politik war eben die Brexit-Frage, die Frage nach der britischen Identität in einem von ökonomischen, sozialen, politischen und, last but not least, kulturellen Verwerfungen durchwachsenen Europa.

Jeremy Corbyn hatte eigentlich eine treffliche Ahnung von der Lösung dieser Brexit-Frage: Der europäische Gedanke und die historisch gewachsene EU sind nur zu verteidigen, wenn man sie wirklich grundlegend reformiert. Doch ohne einen tatsächlichen Plan, wie diese Herkules-Aufgabe praktisch-politisch zu bewerkstelligen ist (das strukturelle Dilemma nicht nur der britischen Linken) war er hin und her gerissen zwischen den sich in dieser Frage ausschließenden Interessen und Meinungen in der Partei, wie der Bevölkerung insgesamt. Entsprechend unfähig wurde er, sich gegen seine konservativen und liberalen Widersacher in der eigenen Partei und in der breiten Bevölkerung hegemonial durchzusetzen. So war er zum Schwanken zwischen der rechtskonservativen Leave-Offensive und dem liberal-kapitalistischen Remain-Lager gleichsam verurteilt.

Selbst Panitch/Leys scheinen hier keinen wirklichen Ausweg zu wissen. Durchgängig betonen sie zwar die herausragende Rolle, die gerade die europäische Frage schon in den 1970ern und erst recht unter Corbyn gespielt hat. Doch ebenso durchgängig verbannen sie dieses allzeit präsente politisch-strategische Problem ins Souterrain ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung. Sie legen schließlich sogar nahe, dass Corbyn die konservative Theresa May gegen den noch konservativeren Boris Johnson hätte unterstützen sollen – doch dann wäre er von seiner potentiellen Bevölkerungsbasis (die die EU zurecht nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil ihrer Probleme identifiziert) als ein Mann des verabscheuten Establishments wahrgenommen worden…

Am Ende ihres Buches mutet es geradezu zwangsläufig an, dass Corbyns Tage gezählt waren. Der Generationsbruch nach Corbyns Rücktritt, schreiben sie verhalten pessimistisch, dürfte deswegen nachhaltig und tiefgreifend ausfallen und ob die Jungen ihren eigenen Weg finden, sei noch nicht ausgemacht. So beeindruckt sie sich von Corbyns Erfolgen auch geben, sie wissen und sprechen es aus, dass der alte Weg einer demokratischen Rückeroberung der strukturell oligarchisierten sozialdemokratischen Partei als offensichtlich gescheitert einzuschätzen ist. Unausgesprochen sind sie damit wieder bei ihrem alten Lehrer Ralph Miliband.

Jener hatte im 1972 geschriebenen Nachwort zur Neuauflage seines geschichts- und politikwissenschaftlichen Klassikers ›Parliamentary Socialism‹ nicht nur betont, dass man den britischen Kapitalismus nicht verändern könne, wenn man nicht gleichzeitig auch den internationalen und europäischen Kapitalismus herausfordere (EU-Frage), sondern auch, dass es eine Transformation der Labour-Party nur mit, bzw. nicht gegen die eigene Parlamentsfraktion geben könne. Gerade dies jedoch schloss Miliband aufgrund des politisch-parlamentarischen Systems, seiner Funktionsgesetze und der dadurch bedingten notorischen Schwäche linker parlamentarischer Parteifraktionen explizit aus. Auch wenn es episodische Revolten in dieser oder jener Frage und einen gelegentlich starken Druck auf die Parteiführungen geben könne (und werde), so seien diese doch letztlich immer wieder aufzufangen vom systemischen »Management der Unzufriedenheit« (»management of discontent«). Am Problem, »that the Labour Party will not be transformed into a party seriously concerned with socialist change«  (Ralph Miliband), komme also auch die britische Linke nicht vorbei.

Dass Panitch/Leys dieses apodiktische Urteil Milibands hier nicht wiederholen, ist kein Zufall. Weil sich auch alle anderen Versuche eines neosozialistischen Neu-Beginnens als letztlich erfolglos erwiesen hätten, warnen die beiden vor dem ›Ätschi-Bätsch‹ des Sektierers, der es immer schon besser wusste. Sie plädieren stattdessen für Zeit und Ruhe, die Niederlagen der letzten Jahrzehnte angemessen aufzuarbeiten und entsprechend neu zu beginnen. Und neu beginnen könne man nur, wenn man als Linke auch wieder in die Betriebe und Kommunen gehe, sich sozial und politisch in den Auseinandersetzungen der dort Lebenden und Arbeitenden verankere und dabei neue Netzwerke kollektiven Widerstandes bilde, die die einstmals so lebendige und heute nachhaltig erodierte sozialistische Arbeiterkultur, die eigentliche Ursache der linken Misere, zumindest ein Stück weit zurückhole. Das ist, wenn auch inhaltlich nicht näher ausgeführt, so doch immerhin von den beiden schön gesagt. Gleichzeitig betonen sie jedoch, dass die anstehenden Probleme politischer, ökonomischer, kultureller und ökologischer Art für großen Zeitdruck sorgen: »Dies ist das zentrale Dilemma demokratischer Sozialisten nicht nur in Britannien, sondern auch anderswo.« Gesellschaftspolitischer Problem- und Zeitdruck ist allerdings kein guter Berater linker Politik, produziert er vielmehr zahlreiche, nicht gerade konstruktive politisch-ideologische Kurz-Schlüsse…

Mit ihrer Historisierung des Corbyn-Phänomens gelingt es Panitch/Leys, das Aufkommen, den Verlauf und das Scheitern des britischen Hoffnungsträgers zu erhellen. Indirekt verdeutlicht ihre Problem- und Entwicklungsgeschichte der britischen Linken, wie schon mehrfach angezeigt, aber auch ein Stück Problem- und Entwicklungsgeschichte der deutschen Linken. Dass ein Martin Schulz für eine gewisse Zeit zum wirklichen Hoffnungsträger breiter deutscher Bevölkerungsteile werden, bzw. gemacht werden konnte, sagt viel über die zumeist unterirdischen Ströme, auch der hiesigen Unzufriedenheit, aus. Dass Schulz die politisch-persönlichen Charaktereigenschaften Corbyns fehlen und die Hoffnungen entsprechend falsch adressiert waren, hat vor allem damit zu tun, dass die parteipolitischen Milieus der beiden, trotz ihrer formalen sozialdemokratischen Ähnlichkeit, nicht mehr wirklich vergleichbar waren und sind. Schulz kam eben nicht aus der historischen Tiefe einer traditionsbewussten linken Strömung der deutschen Sozialdemokratie – die es schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gibt. Vielmehr war er der Schildknappe eines streng oligarchisch geführten Parteiapparates, seiner Spin-Doctoren und ihres ›management of discontent‹.

Vieles von dem, was Panitch/Leys als Problem- und Entwicklungsgeschichte der britischen Labour-Linken beschreiben, finden wir in Deutschland deswegen nicht mehr in der sozialdemokratischen Partei, sondern links von ihr wieder. Denn das, was in der SPD noch traditions-links war, ist zu Beginn des neuen Jahrhunderts (nach dem großen Aderlass schon zu Beginn der achtziger Jahre und mit Ausnahme der allerletzten, im Ruhrgebiet und in den norddeutschen Zonenrandgebieten Verharrenden) in die neue Linkspartei gewandert. Und wenn wir im neuen Deutschland nach einer nach links offenen, linkssozialdemokratischen Partei suchen, die einen offenen Bewegungsbezug mit einer vergleichbar abgeschlossenen, von persönlichen Klientelverhältnissen durchdrungenen und auf die Parlamentsarbeit fixierten Partei- und Organisationspraxis verbindet; nach einer Partei, die fast Unvereinbares in sich vereinigt und auf die große, einstmals selbst gestellte Frage nach einer neuen sozialen Idee, deren Zeit und Macht gekommen sei, keine wirkliche Antwort zu formulieren weiß; nach einer Partei, die auf die Frage auch nach der deutschen Identität keine gemeinsame Antwort zu finden vermag und die deswegen die neoliberale EU gleichermaßen ablehnt wie sie diese faktisch verteidigt, so finden wir eine solche Partei nicht mehr in der SPD, sondern in der Partei ›Die Linke‹. Anders als in Großbritannien jedoch (und anders noch als vor einem Jahrzehnt) weckt diese Partei bei breiten Teilen der deutschen Bevölkerung – so jedenfalls hat es seit langem den Anschein – keine Hoffnungswellen mehr.

 

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Christoph Jünke

Christoph Jünke lebt und arbeitet als Historiker in Bochum. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, u.a. von ›Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert‹ (2014) und ›Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung‹ (2015).