Kampf um reproduktive Rechte in den USA

Sarah Leonard im Interview mit Cornelia Möhring

»Wir stehen möglicherweise vor dem Ende staatlich garantierter Abtreibungsrechte«

Sarah Leonard im Interview mit Cornelia Möhring

→ direkt zum Download des Beitrags als PDF.

Sarah Leonard, Mitherausgeberin von The Nation und Dissent, feministische Aktivistin im Kampf um reproduktive Gerechtigkeit in den USA antwortet auf Nachfragen der Bundestagsabgeordneten Cornelia Möhring, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag

Cornelia Möhring: Die lange Geschichte der feministischen Kämpfe für reproduktive Rechte reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück, mit städtischen und industriellen Erfahrungen für viele Frauen, neuen Klassenunterschieden in der Gestaltung persönlicher Beziehungen und im familiären Rahmen, während sie gleichzeitig über alle sozialen Klassen hinweg von patriarchaler Herrschaft geprägt sind. Es dauerte lange Zeit, bis ein Recht und die davon ausgehende Förderung medizinischer Versorgung zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Gesetzgebung und Gerichtsurteile etabliert waren. Beides ist bis heute unvollständig und ständigen Angriffen ausgesetzt.

Wie schätzt Du gegenwärtig die Kräfteverhältnisse im Kampf um reproduktive Gerechtigkeit ein?

Sarah Leonard: Die moderne Geschichte des feministischen Kampfes für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen im Spezifischen reicht zwar bis zur industriellen Revolution zurück. Die Kämpfe um die Reproduktion von Frauen begannen aber schon viel früher (tatsächlich wissen wir von keiner Zeit, in der Frauen nicht eine Vielzahl von Strategien einsetzten, um ungewollte Schwangerschaften loszuwerden). Insbesondere in den Vereinigten Staaten bedeuteten hunderte Jahre der Sklaverei hunderte Jahre, in denen weiße Sklaven-Besitzende versuchten, die Fortpflanzung schwarzer Frauen aus Profitgründen zu kontrollieren. In ihrem wegweisenden Buch ›Killing the Black Body‹ hat Professor Dorothy Roberts gezeigt, wie sich diese Politik der Kontrolle im Zeitalter des Wohlfahrtsstaates in eine Politik der Zwangssterilisation von Schwarzen und Armen gewandelt hat. Es hat in den USA nie die eine einheitliche staatliche Reproduktionsstrategie gegeben, sondern vielmehr eine Politik, die wünschenswerte und unerwünschte Reproduktion bestimmte: Weißen Frauen aus der Mittelschicht wurden Abtreibungen verweigert, während schwarze Frauen und arme Frauen zur Sterilisation gezwungen wurden. Diese Kluft erklärt die Notwendigkeit der unten erläuterten Perspektive auf reproduktive Gerechtigkeit, die Abtreibungen ins Verhältnis zu einem größeren Spektrum reproduktiver Rechte setzt, die auch das Recht auf ein Kind umfassen.

 

Cornelia Möhring: Reproduktive Rechte, insbesondere das auf Abtreibung, sind in den USA umkämpft – vor allem auch vor den Gerichten. Eine eindeutige Bewegung gibt es nicht, Fortschritte werden erstritten, an anderer Stelle wird Terrain verloren. Braucht es nicht ein verbindliches Recht durch die Verfassung?

Sarah Leonard: Seit Roe vs. Wade [dem Urteil des Supreme Court von 1973, das ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch als bundesweit geltendes Grundrecht durchsetzte, Anm. d. Red.] erleben wir, wie die politische Rechte das Recht auf Abtreibung kontinuierlich über die Gesetzgebung der Bundesstaaten und über Gerichtsprozesse beschneidet. Das Guttmacher-Institut hat die breite Palette an Gesetzen und Praxen dokumentiert, die Abtreibungen für viele Frauen faktisch unzugänglich machen – in einigen Staaten gibt es beispielsweise nur noch eine Abtreibungsklinik. Und: Der Rechten ist es auch gelungen, das medizinische Establishment einzuschüchtern. Weniger als 0,2% der amerikanischen Ärztinnen und Ärzte führen Schwangerschaftsabbrüche durch. Medizinstudierende müssen nicht lernen, wie man einen Schwangerschaftsabbruch durchführt und die kleine Handvoll Ärztinnen und Ärzte, die Spätabbrüche vornehmen, fliegen oder fahren von Staat zu Staat. Die Anti-Choice-Bewegung hat seit langem einen terroristischen Flügel, der Ärztinnen und Ärzte ermordet, Massenerschießungen in Kliniken verübt, Ärzt:innen und Patientinnen schikaniert und Entführungen begangen hat.

Wie Robin Marty argumentiert, müssen wir aufhören, uns beim Schutz der Abtreibungsrechte auf die Gerichte zu verlassen. Dies wird durch den Tod der Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg noch deutlicher – ein Tod, der wahrscheinlich zu einem äußerst konservativen Obersten Gerichtshof führen wird. Trumps Nachfolgekandidatin für Ginsburg, Amy Coney Barrett ist eine Gegnerin von Abtreibungs- und Arbeitnehmer:innenrechten. Dennoch wird von den Republikanern versucht, sie als Vorbild für junge Frauen in der Tradition Ginsburgs aufzubauen. Wir stehen möglicherweise vor dem Ende staatlich garantierter Abtreibungsrechte. Wir müssen uns organisieren, um bislang erkämpfte Rechte gesetzgeberisch zu schützen. Und wir müssen diese Leistungen selbst organisiert erbringen. Wir sind bei weitem noch nicht in der Lage, beides im notwendigen Umfang zu tun. Es ist aber davon auszugehen, dass, wenn der Oberste Gerichtshof Roe vs. Wade stürzt, die fortschrittlichen Kräfte motiviert sein werden, härter als bisher zu kämpfen.

 

Cornelia Möhring: Oft wissen Frauen doch sicherlich gar nicht, was das Gesetz des jeweiligen Bundesstaates bezüglich ihrer reproduktiven Rechte, des Zugangs zur Gesundheitsinfrastruktur und des Rechts auf Abtreibung regelt. Wie beeinflusst das ihre Lebensplanung?

Sarah Leonard: Das umkämpfte Recht in Bezug auf Abtreibungen schafft enorme Unsicherheiten für Frauen. Einige Kliniken haben deshalb sogar eine Notiz auf ihren Anrufbeantwortern hinterlassen, in der sie den Patientinnen versichern, dass Abtreibungen nach wie vor legal sind. Aber es sind nicht so sehr die Ungewissheiten, als vielmehr die tatsächlichen Einschränkungen, die den Zugang für ungewollt Schwangere erschweren. Verpflichtende Wartezeiten und unnötige, aber vorgeschriebene Untersuchungen zwingen Frauen zum Beispiel dazu, Arbeitstage frei zunehmen, lange Wegstrecken auf sich zu nehmen, Kinderbetreuung zu organisieren. Das führt oft dazu, dass sie die Frist für einen Schwangerschaftsabbruch versäumen oder sich eine Abtreibung schlicht nicht leisten können, weil ihnen das Geld für diesen Aufwand fehlt. Aus meiner Erfahrung, Frauen von Abtreibungsterminen nach Hause zu begleiten, weiß ich, dass das Nicht-bezahlen-können oft ein großes Hindernis ist. Und immer wieder gibt es Berichte, dass Anti-Choice-Ärzte Patientinnen darüber belügen, wie weit ihre Schwangerschaft schon fortgeschritten ist, so dass sie das Zeitfenster verpassen, in dem Abtreibung gesetzlich erlaubt ist.

 

Cornelia Möhring: Forscherinnen wie Susanne Staggenburg und Marie Skoczylas haben deutliche Unterschiede in den Perspektiven und Strategien der älteren Pro-Choice-Bewegung und der vor allem von farbigen Frauen und einer neuen Generation von Feministinnen eingeführten Begriffserweiterung und Perspektive der ›reproduktiven Gerechtigkeit‹ herausgearbeitet. Darin werden die reproduktiven Rechte im breiteren Kontext von sozialen und ökonomischen Verhältnissen verortet. Was denkst du, in welchem Verhältnis stehen diese unterschiedlichen Verständnisse zueinander und lassen sich die Widersprüche zwischen den feministischen Bewegungen produktiv machen, um den feministischen Kampf gegen die rechten Bewegungen und gegen autoritäre Politik zu stärken?

Sarah Leonard: Die Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit wurde in den 1990er Jahren von farbigen Frauen angestoßen, um dem Fokus der bisherigen Bewegung auf Abtreibung entgegenzuwirken. Stattdessen soll mit dem Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit auf politische Forderungen aufmerksam gemacht werden, die für eine gesunde und gerechte Reproduktion erforderlich sind – von dem Recht auf Wohnraum bis zum Kampf gegen Sterilisation. 1997 wurde die Organisation SisterSong gegründet, um die Kämpfe und Initiativen mit dieser Perspektive zu vernetzen und zu unterstützen. Reproduktive Gerechtigkeit ist seither zu einem zentralen Bezugspunkt linker Aktivist:innen geworden und diese Perspektive wird nach außen auch von Mainstream-Organisationen wie Planned Parenthood unterstützt.

Wichtig zu verstehen ist allerdings, dass die großen Non-Profit-Organisationen, die sich auf Abtreibungsrechte konzentrieren, zum Teil von wohlhabenden Spendern finanziert werden. Sie tendieren oftmals dazu, hochrangige Mitarbeitende zu beschäftigen, die ihre politischen Erfahrungen in der Demokratischen Partei gesammelt haben. Diese Faktoren, die Nähe zur etablierten Parteipolitik, hemmen diese Organisationen in ihrer Radikalität und engen den Handlungsradius ein. Basisorganisationen wie das National Network for Abortion Funds, die ganz klar in der Bewegung für reproduktive Gerechtigkeit verankert sind, sind unabhängiger und auch demokratischer.

Es muss mittlerweile konstatiert werden, dass die Hauptaktivitäten der größeren Organisationen – Rechtsstreitigkeiten, Lobbyarbeit und die Wahl von Demokraten – an ihrem Ziel, Abtreibungsrechte zu schützen, weitgehend gescheitert sind. Die Abtreibungsrechte wurden von konservativen Gerichten ständig zurückgedrängt. Gleichzeitig haben die Demokraten keine Angst vor Gruppen, die immer in ihrem Lager landen werden – das Engagement für die Abtreibungsrechte hat eine so niedrige Priorität, dass die Partei Joe Biden nominierte, der fast über seine gesamte Karriere hinweg das sog. Hyde-Amendment unterstützte, welches die Bundesfinanzierung von Abtreibungen verbietet (und große Gruppen im Lager der reproduktiven Rechte haben seine Nominierung nicht abgelehnt).

Natürlich gibt es trotz unterschiedlicher Strategien zahlreiche politische Überschneidungen zwischen progressiven Gruppen in dieser Frage. Aber es scheint sich immer deutlicher abzuzeichnen: Wenn das Recht auf Abtreibung geschützt werden soll, dann muss die Strategie in den Händen der radikaleren Gruppen liegen, die vorwiegend von farbigen Frauen geführt werden.

 

Cornelia Möhring: In Europa wird die Frauenpolitik immer noch und wird immer wieder eng mit der Familienpolitik verknüpft, womit (gewollt oder ungewollt) traditionelle Ansichten und Zuschreibungen von Verantwortung, Rolle und Fähigkeiten von Frauen in der Gesellschaft reproduziert werden.

Wie wichtig sind Frauen- und Familienbilder in den Zukunftsvisionen der Rechten in den USA? Wäre es sinnvoller, wenn  feministische Strategien in politischen Auseinandersetzungen die Familienpolitik eher von frauenpolitischen Forderungen, wie z.B. der reproduktiven Gerechtigkeit trennen?

Sarah Leonard: Die Familie ist für die Zukunftsvision der Rechten von wesentlicher Bedeutung. Die Republikanische Partei ist in ihrem Kern eine Allianz zwischen konservativen Christ:innen und neoliberalen Kapitalisten wie den Koch-Brüdern. Konservative Christ:innen betonen seit langem die Bedeutung traditioneller, patriarchalischer Familienstrukturen. Aber auch die Neoliberalen haben etwas davon. Soziale Dienstleistungen, die eigentlich öffentlich sein sollten – wie Gesundheitsversorgung, Altenpflege oder Kinderbetreuung – können leichter gekürzt werden mit dem Verweis darauf, dass diese eigentlich ins Aufgabenfeld der Familie gehören. Neoliberale Rechte senken mit diesem Familienverständnis Staatsausgaben. Für eine politische Kraft, deren Existenzberechtigung die Senkung von Steuern ist, ist diese Ideologie enorm wichtig. Darüber hinaus hat die neoliberale Rechte herausgefunden, dass Abtreibung ein starkes Thema ist, um die Menschen dazu zu bewegen, die Republikaner zu wählen. Und je mehr Menschen die Republikaner wählen, desto leichter können sie ihre Anti-Steuer-Agenda durchsetzen. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Bindungsfunktion den Kampf gegen das Recht auf Abtreibung, für Leute wie die Koch-Brüder, die sich ansonsten dafür nicht interessieren würden, für die Reichen sehr nützlich macht.

Die Linke sollte dieser Vision das klare Bekenntnis zur Fürsorge als kollektivem Projekt und zur gesellschaftlichen Verantwortung dafür entgegensetzen, anstatt ausgehend von Kernfamilien zu denken, die ohnehin niemals die Norm waren, als welche sie die Rechte ausgibt. Anstatt also ›Frauenfragen‹ und ›Familienfragen‹ voneinander zu trennen, sollten wir weniger über die Kernfamilie im Allgemeinen sprechen, sondern mehr über sozial organisierte Versorgung und Fürsorge, die allen Menschen unabhängig von ihrer Beziehung zu traditionellen Familienstrukturen zugänglich ist.

 

Beitrag als PDF-Datei zum kostenlosen Download: HIER klicken.

 

 

Sarah Leonard

Sarah Leonard ist Herausgeberin des sozialistisch-feministischen Magazins ›Lux‹. Sie ist außerdem Mitherausgeberin von ›The Nation‹ und ›Dissent‹.

Cornelia Möhring

Cornelia Möhring, ist Feministin, Sozialökonomin und Aktivistin. Sie ist als Mitglied des Bundestages frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind reproduktive Rechte und Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen.