Der Übersetzer des ›anderen‹ Amerika

Über Carl Weissner

Der Übersetzer des ›anderen‹ Amerika

Über Carl Weissner

von Richard Gebhardt

Rezension zu: Carl Weissner: Aufzeichnungen über Außenseiter. Essays und Reportagen, herausgegeben von Matthias Penzel. Mit einem Vorwort von Anthony Waine, zahlreiche Abbildungen. Meine: Verlag Andreas Reiffer, 2020, 246 S., 15€

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Es gibt Größen des literarischen Lebens, die einem breiten Publikum nur wenig bekannt sind, obschon die von ihnen mitgeschaffenen Werke hunderttausendfach die Buchregale der Republik zieren. Zu diesen Inspiratoren im Schatten des Kulturbetriebs gehört der Übersetzer und Schriftsteller Carl Weissner, der auch als Zeitschriftengründer, Literaturvermittler, Autorenagent und Journalist zahlreiche Leser und deren Lektüregewohnheiten beeinflusst hat. Weissner – geboren 1940 in Karlsruhe, verstorben 2012 in Mannheit – gehört zu den großen Förderern des US-Undergrounds in Deutschland. Die literarische Montagekunst des Cut-Up wurde von ihm schon 1965 als revolutionäre Technik in Deutschland eingeführt, die hiesigen Verhältnisse sollten zudem mit amerikanischen Klängen von Bebop bis Rock zum Tanzen gebracht werden. Als legendärer Übersetzer der Gedichte, Romane und Stories von Charles Bukowski traf er, der hierzulande auch als Literaturagent des Mannes mit der Ledertasche tätig war, den tragikomischen Ton von ›Buk‹ ebenso kongenial wie im Falle der bild- und assoziationsreichen Lyrics (die vielleicht nie im klassischen Sinne Lyrik sein wollten) von Bob Dylan. Das von Weissner und seinem Mitstreiter Walter Hartmann ins Deutsche übertragene Dylan-Songbook der Jahre 1962-85 wurde von Zweitausendeins in dutzenden Auflagen verkauft. Und von Dylan, Frank Zappa und Andy Warhol über Allen Ginsberg bis William S. Burroughs wurden entscheidende Künstler der Pop-Kultur durch Weissners Übersetzungen – die notwendigerweise immer auch Interpretationen waren – jenem Teil der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, der ansonsten vor dem Anspielungsreichtum sowie den harten Schnitten und Spielereien der neuen Literaten und Song-Dichter kapituliert hätte.

Wer nun mehr über Weissners Leben, Werk und Wirken wissen will, wird in dem von Matthias Penzel kenntnisreich herausgegebenen und fein bebilderten Band ›Aufzeichnungen über Außenseiter‹ fündig. Zahllose der hier versammelten Essays, Rezensionen und Reportagen über Bukowski, Dylan, Burroughs oder auch Arthur Rimbaud, Jörg Fauser, Wolf Wondratschek und Hunter S. Thompson waren bislang beispielsweise nur in vergilbten Ausgaben der längst eingestellten Musikzeitschrift Sounds zu finden. Oder sie blieben – wie die Notizen aus den USA – bislang unveröffentlicht. In diesen Texten zeigt sich Weissner als großer Meister der essayistischen Form – etwa wenn er frei fabulierend beschreibt, unter welchen Umständen er Bukowski kennengelernt hat (nämlich angeblich im Haus von Henry Miller, in dem Bukowski im Suff dem Patriotismus verfällt und die polnische Nationalhymne poltert) oder wenn er berichtet, wie er den »großen Grauen mit den gelben Zähnen« im Mai 1978 auf seiner legendären Lesetour nach Hamburg begleitet. Dort erwarteten ihn in der Markthalle über tausend, zum Teil grölende Gäste, was, wie wir nachlesen können, allen Beteiligten nicht wenige Nerven kostete. An anderer Stelle notiert Weissner, wie er mitten in der Nacht von Bukowski mit wirren Anrufen geweckt wird (»Wir haben uns doch für die Silvesternacht zum Doppelselbstmord verabredet, nicht?«). Oder er beschreibt, wie er ihn 1994 gemeinsam unter anderem mit Sean Penn zu Grabe trägt. Hier erweist sich Weissner nicht als Epigone, sondern als wahrer Geistesverwandter des Underground-Stars, der in seinen Romanen und zahllosen Miniaturen die menschlichen (meistens männlichen) Drangsale und das kurze Aufblitzen des kleinen Glücks so lakonisch-weise zu Papier gebracht hat. Die von melancholischem Witz getragene Reportage ›Das Ende des Suicide Kid‹ liest sich schließlich, als hätte Bukowski seine eigene Begräbniszeremonie beobachtet und beschrieben. Kein Wunder, dass Weissner von Fans in einem Atemzug mit dem Meister selbst genannt wird.

Weissner hatte das verdiente Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu weilen. Während des Studiums der Anglistik in Bonn und vor allem im US-amerikanisch geprägten Heidelberg erhält er ein Fulbright-Stipendium für die USA, der vorliegende Band enthält bislang unveröffentlichte Notizen aus dem Jahr 1967. Der Kontakt zu Bukowski und Burroughs bestand schon früh, seit 1965 gibt Weissner die nach der Nummer von Charlie Parker benannte Zeitschrift Klactoveedsedsteen heraus. Seine Artikel tragen dabei richtungsweisende Titel wie »statement gegen eine avantgarde, die nach deutscher Eiche riecht«. No. 2 von Klacto besteht, wie wir aus der informativen, keinesfalls aber vollständigen Bibliographie erfahren »aus zwei Papierrollen à zwei Meter, mit denen sich – nebeneinandergelegt und verschiebbar – eigenständig Cut-ups produzieren und variieren lassen«. Weissner agierte schon in seiner Anfangszeit als deutsch-amerikanischer Kulturbotschafter und Pionier neuer künstlerischer Techniken, die heute, da Cut-up Seminarthema ist und Thompsons radikal subjektiver, die Grenzen zur Fiktion überschreitender Gonzo-Journalismus auch in bürgerlichen Blättern imitiert wurde, anachronistisch wirken mögen. Damals aber wurden damit Genre- und Wahrnehmungsgrenzen außer Kraft setzt.

Besonders interessant lesen sich im Jahre 2020 Weissners Essays über Bob Dylan, die die literarische Tradition des Folk-Barden (Shakespeare, Homer, Blake) kenntnisreich freilegen, aber nicht dem damals nicht nur in den USA anzutreffenden Kultus der Heiligsprechung des Genies aus Hibbing (Minnesota) folgen wollten. Rockkritik etablierte sich in Deutschland maßgeblich in Sounds als ernstzunehmendes Genre. Angenehm liest sich heute, wie publikumsnah Weissner sein literarisches Wissen präsentiert und wie respektvoll er seine Einwände vorträgt. Nie vermittelt er den Eindruck, Dylan zugunsten der eigenen Selbststilisierung als Kritikerpapst demontieren zu wollen. Dylans Wirkung sei, so meinte der damals einflussreiche Rockjournalist Ralph Gleason im Juni 1973, »allenfalls noch mit der von Shakespeare und der Bibel« zu vergleichen. Weissner wiederum gelingt es, der verklärte Folk & Rock-Ikone auf ein menschliches Maß zu bringen und kann deshalb auch musikalische Klischees in Meisterwerken wie Dylans Desire klar benennen. Es sei eben bedenklich in der »Nähe von platter ›Programm-Musik‹« zu verorten, »wenn man den schwarzen Boxer Hurricane Carter mit Bongotrommeln untermalt, dem New Yorker Gangster mit den italienischen Vorfahren (Joey) eine neapolitanische Mandoline draufsetzt, und wenn man gar dem mexikanischen Desperado (Romance in Durango) ein elektronisches Schifferklavier beigibt, das bei Bedarf auch Fiesta-Trompeten imitieren kann«. – Touché! Dass Weissner dann dennoch die herausragende Qualität einiger Songs auf Desire würdigt, zeigt ein nüchternes Differenzierungsvermögen, das auch in Sounds nicht selbstverständlich war.

Nicht nur als Übersetzer, auch als Kritiker war Weissner also eine Größe, die freilich selbst eine abwägende Betrachtung nötig macht. Die Ambivalenzen seiner Urteile werden auch in den höchst gelungenen Texten offenkundig. Seine 2004 im deutschen Rolling Stone erschienene und brillant geschriebene Würdigung des Schriftstellers und Weggefährten Jörg Fauser gehört beispielsweise zu den ergreifendsten Beiträgen im Band. Die Werkschau gerät aber aufgrund der persönlichen Nähe zum 1987 so tragisch verstobenen Fauser beinahe zur Hymne. Gemeinsam war beiden die Attitüde des Nonkonformisten: Einschränkungen und ›Sprechverbote‹ aller Art waren abzulehnen, die politische Linke galt es ebenso wie den Kulturbetrieb nicht zu schonen. Diese Haltung forderte ihren Preis. Zustimmend zitiert Weissner in seiner Huldigung eine aufsehenerregende Kolumne von Fauser, die dieser 1983 in der damals vielgelesenen Berliner Stadtzeitschrift Tip veröffentlicht hatte (Fausers Kolumnen aus der Berliner Zeit 1980 bis 1984 wurden jüngst unter dem Titel ›Caliban Berlin‹ bei Diogenes wiederveröffentlicht). In dieser Kolumne beschwert sich Fauser unter dem späteren Beifall Weissners über ›Feminismus und Gesinnungsdiktaturen‹ im deutschen Medienzirkus. Diese Melange, so führt Weissner 2004 aus, habe »längst alles platt gemacht, was Männern einmal Spaß gemacht hat«. (Im Original von 1983 schreibt der hier nur paraphrasierte bzw. unvollständig zitierte Fauser übrigens Jahrzehnte vor #MeToo gegen »die sterile Kopf- und Zopfwelt einer von Feminismus und ähnlichen Gesinnungsdiktaturen genormten Kultur, aus der längst alles getilgt wurde, was Männern einmal Spaß gemacht hat. Abenteuer, Leidenschaft, Exzess, Sünde, Todessehnsucht, Killerinstinkt, Gier, Hass, Rausch« – und polemisierte so gegen die vermeintlichen Vorschriften in einer »kleinen gezähmten Welt des westdeutschen Kulturbetriebs«, in der die »archaischen Formen menschlichen Verhaltens« unterdrückt würden. Das liest sich, als sei das Playmate des Monats die Jeanne d´Arc der Gegenwart.)

Ist es da Zufall, dass die Gegenkultur in Rock und Literatur – Dylan, Burroughs, Ginsberg, Bukowski et al – vor allem eine Männerkultur war? Wer auf die Klischeehaftigkeit dieser angestrengt vitalistischen Männerbilder verweist, gilt auch heute als moralisierende Spaßbremse. Dennoch bleibt zu betonen, dass der subkulturelle Horizont an diesen Stellen nicht über das Hohe Lied auf die Archaik hinausgeht. Bemerkenswert ist, dass Weissner in seinem Porträt zwecks Verteidigung Fausers geradezu emphatisch Sätze wie diesen schreibt: »Und was schäumten sie da wieder, die Zwitterwesen der Political Correctnes von halblinks«. Gääähn! Aber wie auch immer: Die Abscheu vor der politischen Korrektheit war eben nie nur rechts anzutreffen. Allerdings wurden die Dokumente des Shitstorms in den späten Jahren der Gutenberg-Galaxis noch als Leserbrief mit der Deutschen Post befördert. Die empörten Zuschriften dienten beim Adressaten und seinen Freunden wohl nur der Selbstbestätigung. Es bleibt festzuhalten, dass auch herausragende Köpfe wie Fauser (oder Weissner) lieber die Hochglanzmännerwelt verteidigten, als dass sie den bereits damals umstrittenen ideologischen Charakter ihrer Widerrede gegen die ›Gesinnungsdiktaturen‹ oder ›Zwitterwesen‹ nachspüren konnten. Kurz: Die Attitüde des Provokateurs war schon damals eine fade Pose.

Ganz links wäre Weissner in Deutschland ohnehin nie zu verorten gewesen. Es ist nicht nur der kulturelle Pro-Amerikanismus, der ihn von jenen Generationengenossen trennt, die den Faschismus vorzugsweise im Weißen Haus entdeckten, von den Nachfolgern des Nationalsozialismus im eigenen Land aber mitunter weniger wissen wollten. In seiner Distanz zu den deutschen 68ern schießt Weissner auch schon mal über das Ziel hinaus: »Zuhause«, so schreibt er in seinen nachgelassenen ›US-Notizen‹ aus dem Jahre 1967, »wird gegen den amerikanischen Kulturimperialismus auf deutschem Boden angeschrieben und -gesungen. Davon sollte man erst reden, wenn es in Mannheim 16000 Nutten gibt – für jeden G.I. eine«.

Auch die deutsche Linke scheint ihm nach alter teutonischer Eiche zu riechen, die USA gelten als kulturelle Befreiungsmacht, die Weissners von Bebop, Cut-Up, Gonzo, Beatliteratur, Folk und Rock inspirierten Blick auf die Welt geprägt hat. In dieser Welt – und das ist der Unterschied zur traditionellen Linken, die Fauser in ›Rohstoff‹ so gnadenlos glänzend vorgeführt hat – sollte das Bewusstsein das Sein bestimmen, sollten die Pforten der Wahrnehmung im Schaffens-Rausch durchschritten werden. Selbstredend wurde dieser Rausch lange Zeit künstlich befeuert: Fauser und Burroughs bevorzugten zeitweise die Nadel, Weissner machte kein Geheimnis aus seinem Faible für Meskalin. Auch der Lesehunger in der Gegenkultur war Ausdruck eines besonderen Willens zur Welterfahrung, zur Überschreitung von Grenzen. Nicht nur Cut-Up zerstörte die alten Sinnzusammenhänge und ersetzte sie durch neue, stilbildende Perspektiven.

Auch wenn diese Perspektiven 2020 bisweilen altmodisch scheinen, lohnen sich Weissners kleine Schriften unbedingt zur Wiederlektüre. Allerdings wirkt der Titel ›Aufzeichnungen über Außenseiter‹ heute fragwürdig. Weissner selbst ist heute ebenso wenig ein echter Außenseiter wie die Künstler, die er übersetzte oder über die er schrieb. Bukowski ist gerade in Deutschland ein Longseller, der immer wieder neu entdeckt wird. Bücher wie ›Naked Lunch‹ von Burroughs oder ›Fear and Loathing in Las Vegas‹ von Thompson wurden von David Cronenberg bzw. Terry Gilliam erfolgreich verfilmt. Dylan hat den Nobelpreis in der Tasche, egal ob diese Auszeichnung für sein Werk wichtig ist und die Verehrer von Jörg Fauser können gleich auf drei (!) Werkausgaben zurückgreifen, eine Edition davon hat Weissner bei Rogner & Bernhard herausgegeben. Sein eigener Nachlass liegt in den Kühlkellern des Marbacher Literaturarchivs, er gehört also auch literaturoffiziell zum Kanon – wenn auch das breite Publikum viel zu wenig Notiz von Wegbereitern wie ihm nimmt. Welche zentrale Bedeutung ein Übersetzer hat, lässt sich im Falle Weissners exemplarisch darstellen. Gerade in Deutschland besteht sein Verdienst darin, dass ›seine‹ Außenseiter ihre Anerkennung längst erfahren haben. Der Band wird nun dazu beitragen, dass Weissner, der Übersetzer des anderen Amerika, auch als Essayist im kulturellen Gedächtnis der Republik bleibt.

 

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Autorenbild von Richard Gebhardt
Richard Gebhardt

Politikwissenschaftler, Publizist und Referent in der Erwachsenenbildung.