Am Limit. Covid-Kapitalismus, Kipp-Punkte und Care

Am Limit

Covid-Kapitalismus, Kipp-Punkte und Care

von Christa Wichterich

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Immer häufiger ist jetzt vom Covid-Kapitalismus die Rede. Gemeint ist der neoliberale Kapitalismus im globalen Format, der zwar in seinen Grundstrukturen unverändert besteht, dessen Widersprüche und Krisen aber durch die Pandemie gewaltförmig und lebensbedrohlich zu Tage treten. Naomi Klein bezeichnet mit ›Corona-Kapitalismus‹ ein Regime der Krisenlösung zugunsten von Konzernen und eines naturzerstörerischen Extraktivismus von Ressourcen.

Für die feministische Ökonomin Tithi Batthacharya und Gareth Dale besteht der ›Covid Kapitalismus‹ darin, stets schnelle Profite über Leben zu stellen. Die feministische Soziologin Nivedita Menon sieht ein corona-kapitalistisches Regime in Indien, das nach oben die Digitalisierung mit massenhaftem Online-Konsum und staatlicher Rundum-Überwachung vorantreibt, und nach unten neue Formen von Zwangsarbeit einführt, u.a. mit einer neuen Arbeitsgesetzgebung, die längst  erkämpfte Rechte zurückschraubt.

Mein Blick auf den Covid-Kapitalismus erfolgt von der Reproduktion her, besser: von den aktuellen Kipppunkten der Reproduktion, den vom Virus direkt Betroffenen und der zerstörerischen Extraktion von Sorge- und Pflegearbeit. Die völlig erschöpfte oder infizierte Krankenpfleger:in ist zu einer Metapher dafür geworden, dass der globalisierte Wachstumskapitalismus einen Kipppunkt erreicht hat. Ebenso die polnische Altenpflegerin, die als 24/7-Kraft in der Wohnung eines pflegebedürftigen alten Herren in Basel lebt und arbeitet und sich zwischen Versorgung ihrer Familie durch Geldverdienen oder direkte Versorgung zu Hause entscheiden muss. Andererseits geraten Pflegebedürftige in Panik, dass die alle vier Monate pendelnde Polin in der Ausnahmesituation bei ihrer Familie bleiben könnte.

Die Covid-19-Krise intensiviert die Prekarität und Abhängigkeiten von migrantischen  Beschäftigten: in Privat-Haushalten verloren sie ihre Jobs aufgrund befürchteter Infektionen, in der Gastronomie waren sie von den Lockdowns betroffen, der häufig prekäre Aufenthaltsstatus macht sie besonders verwundbar. In vielen Ländern sind sie illegalisiert und müssen sich für eine Repatriierung erneut verschulden. Zu Hause angekommen, werden ihnen als Überbrückungshilfe die berühmten Kleinkredite angeboten.

Im sogenannten reichsten Land der Welt, den USA, zogen sich Krankenschwestern zu Beginn der Pandemie schwarze Mülltüten über, um sich vor Covid-19 zu schützen. In vielen Ländern des Globalen Südens versorgten sie Erkrankte ohne Maske und Infektionsschutz. Nach der ersten Welle litten Pflegekräfte unter dem Italien-Syndrom: Schlaflosigkeit, Verzweiflung, Depressionen, Konzentrationsunfähigkeit. Ihre Körper hatten einen Kipppunkt erreicht. Wenn das Schlimmste überstanden ist, wollen sich immer mehr von ihnen nach einem anderen Job umsehen.

Dagegen gibt es in den Krankenhäusern Zimbabwes keinen Sauerstoff, keine Medikamente außer Schmerzmitteln und nur noch wenige Krankenschwestern und Ärzt:innen. Großbritannien und die Golfstaaten werben seit Jahren Gesundheitspersonal aus dem südlichen Afrika in großem Maßstab ab. Im März 2020 importierte Deutschland 75 Intensivpflegekräfte aus den Philippinen per Rekrutierungsflug und Ausnahmeverordnung, sprich: trotz Pflegenotstand und Quarantäne auf den Philippinen und europaweiter Einreisebeschränkungen. Die philippinische Regierung hatte Deutschland und Großbritannien den Deal angeboten, Krankenschwestern gegen Impfstoff zu tauschen. Die Kommodifizierung von Arbeitskräften könnte deutlicher nicht sein.

Gleichzeitig wurde der ultimative Ausstieg aus der Pandemie durch die rasche Entwicklung von Impfstoff herbeigeredet. Eine medizin-technische Lösung, keine politisch-gesellschaftliche, ohne in Rechnung zu stellen, dass jedes Medikament und jeder Impfstoff Produkt eines pharma-industriellen Komplexes ist. Anti-Corona-Impfstoffe wurden im Eilverfahren an Hunderttausenden Menschen im globalen Süden getestet. Ihre Produktion unterliegt zuallererst einem profitorientierten Patent- und Handelsregime, auch wenn Forschung und Entwicklung mit öffentlichen Geldern finanziert wurden. Die aktuelle Forderung nach Freigabe der Patente denkt Gesundheit dagegen als ein universelles Menschenrecht, als planetarisches Common (Gemeingut) der Reproduktion von menschlichem Leben.

Ich argumentiere, dass der Corona-Kapitalismus aus der Reproduktionsperspektive vor allem durch einen brutalen Extraktivismus von Care – Sorge – gekennzeichnet ist. Dazu verknüpfe ich Erfahrungsachsen des Alltags und verschiedene Argumentationsstränge.

Krise der Versorgung

Es ist inzwischen ein Allgemeinplatz, dass die Pandemie die strukturellen Defizite und die Krisenhaftigkeit der neoliberalen Globalisierung bloß legt und wie ein Brandbeschleuniger strukturelle Ungleichheiten verstärkt. Die Beispiele oben zeigen die massive Krise sozialer Reproduktion an, nach dem Motto: Covid-19 Krise trifft auf Dauerkrise des Kapitalismus. Soziale Reproduktion wird dabei als ein Mensch-Mensch- und Mensch-Natur-Verhältnis begriffen, als System verwobener sozio-kultureller, ökonomischer und  ökologischer Praktiken in unterschiedlichen politischen, patriarchalen und klassenbasierten Machtkonstellationen. Die Pandemie erteilt uns täglich eine neue Lektion bezüglich der Fehlerhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit dieses Systems und bezüglich unserer eigenen körperlichen und sozialen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten.

Gesellschaftliches und individuelles Leben sind in der neoliberalen Globalisierung durch Vielfach-Abhängigkeiten organisiert, und zwar durch Ausbeutung abgewerteter und geringgeschätzter sozialer Klassen, Geschlechter, Hautfarben, Ethnien und Herkünfte auf nationaler Ebene wie auch auf transnationaler Ebene. Alltagsgegenstände wie Masken oder überlebenswichtige Medikamente sind im Notfall in den hochindustrialisierten und digitalisierten Ökonomien nicht verfügbar, weil sie dort hergestellt werden, wo die Produktion am billigsten ist, nämlich weit weg. Unsere Versorgung ist extraktivistisch organisiert, mithilfe und auf Kosten unter- und unbezahlter Pflegekräfte in Krankenhäusern, Altenheimen und Privathaushalten, migrantischer Ernte›helfer:innen‹ in der Landwirtschaft, migrantischer Arbeitskräfte in der Fleischverarbeitung und Zulieferung preisgünstiger Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände, die stark auf unterbezahlter Lohnarbeit entlang globaler Wertschöpfungsketten beruhen. Doch auch auf nationaler Ebene leben und reproduzieren ›wir‹, die globalen Mittelschichten und der globale Norden unser ›gutes‹ (Über)Leben auf Kosten der ›anderen‹, der Subalternen, sozial schwacher Klassen, der Eingewanderten, aber auch zu Lasten derjenigen, die schlecht bezahlt unsere Versorgung gewährleisten: Reinigungskräfte, Supermarktbeschäftigte, Busfahrer*innen und Müllmänner.

Die Krise, die akut und heftig als Versorgungsnotstand aufgrund des Mangels an Pflegekräften, Intensivbetten, Sauerstoff, Masken oder Impfstoff erfahren wird, zeigt, dass die Märkte nicht in der Lage sind, die Reproduktion aller Menschen zu sichern. Sie funktionieren nach den Prinzipien von Umsatz, Profitsteigerung, Kostensenkung, Effizienz und Konkurrenz statt sich an Bedürfnissen und dem Gemeinwohl auszurichten. Das wiederum verweist auf den fundamentalen Widerspruch der kapitalistischen Wachstumsökonomie, dass sie durch Profitgier und Überausbeutung die Quellen des Reichtums in der Natur und der menschlichen Arbeitskraft zerstört. Dieser Widerspruch entfaltet hochgradig zerstörerische Kräfte gegenüber den Ressourcen, von denen die marktliberale Ökonomie existentiell abhängig ist. Beispiel Klimawandel, Beispiel Artensterben, Beispiel Care Arbeit. In der kritischen Evolutionsbiologie wird die Position vertreten, dass auch Zoonosen und Mutationen von Viren letztendlich als Effekt herrschaftlich umstrukturierender Eingriffe in die natürlichen Umwelten durch Ressourcenextraktivisimus, Genmanipulation und industrielle monokulturelle Land- und Viehwirtschaft betrachtet werden müssen.

Tendenziell selbstzerstörerisch verachtet und erodiert die kapitalistischen Ökonomie gerade diejenigen und die Ressourcen, die sie zu seinem Fortbestand braucht. Der Wachstumsimperativ fordert seinen Preis durch den Sorgeextraktivismus bei den Versorgungs- und Sorgearbeiter:innen, die unterbezahlt und unbezahlt, überbelastet, aber geringgeschätzt verbinden, beatmen, windeln, putzen, kochen, waschen, streicheln, trösten – tagaus, tagein.

Arbeit, Care und Geschlecht

Jede Arbeit, bezahlt und unbezahlt, ist eine Vergesellschaftungsform und stiftet Identität. Arbeit macht Geschlecht, und natürlich Klasse. Umgekehrt machen Geschlecht (und natürlich Klasse) auch Arbeit. Kapitalistisches Wachstum nährt sich nicht nur aus der Verwertung von Lohnarbeit und natürlicher Ressourcen. Es ruht auf einem dicken Polster von un- und unterbezahlter Care-Arbeit im Kontext einer geschlechtlichen, besser: geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung. Care-Arbeit verstehe ich hier als Sich-Sorgen, Versorgung, Pflege und personennahe Dienstleistungen im Gesundheits-, Bildungs- und anderen Sozialbereichen. Care ist die konkrete Arbeit, die die soziale Reproduktion am Laufen hält. Ohne Care-Arbeit keine Erwerbsarbeit. Aus dieser Perspektive ist sie höchst produktiv, weil sie Leben produziert und erhält. Sie ist unentbehrlich als soziale Beziehung, die auf Zuwendung, gegenseitige Abhängigkeit und Interaktion aufbaut, das Soziale produziert und reproduziert.

Perfiderweise setzen der Markt, die Waren- und Geldökonomie die (über-)lebensnotwendige Sorgearbeit als unendlich dehnbare und voraussetzungslos nachwachsende Ressource sowie als ›natürliche‹ weibliche Fähigkeiten voraus. Die Zuschreibung von Sorgearbeiten an Frauen betrifft nicht nur unbezahlte Hausarbeit, sondern auch Lohnarbeit. Dabei gilt Care oft lediglich als Verlängerung von haushaltlichen und mütterlichen Versorgungsaktivitäten in den Markt hinein, als unproduktiv und keinen Warenwert erzeugend. Das bedeutet, dass Vermarktung und Lohnzahlung die prinzipielle Abwertung von Care-Arbeiten nicht aufheben, sondern fortsetzen.

Care-Arbeit ist durch eine Eigenlogik des Sorgens und des Sich-Kümmerns gekennzeichnet, weil sie auch als Lohnarbeit stark von Affekten, Vertrauen und Reziprozität bestimmt ist. Sie hat ihr eigenes Tempo und ihre eigene Produktivität. Da sich das Füttern von Demenzkranken, das Unterrichten von Kindern und Streicheleinheiten nicht immer weiter beschleunigen lassen, zeigen sich hier strukturelle Rationalisierungsgrenzen auf dem Markt. Das kollidiert mit den Marktprinzipien von Effizienz, Konkurrenz und Produktivitätssteigerung und bestätigt die Geringschätzung immer wieder, gerade in Zeiten der Digitalisierung und Roboterisierung.

Die andauernde Abwertung von Arbeit in der Reproduktionsökonomie gegenüber Arbeit in der Produktionsökonomie ist ein kapitalistisches Struktur- und Akkumulationsprinzip. Extraktivismus, die intensivierte Kommodifizierung und Ausbeutung von Sorgearbeit ist ein systemischer Herrschaftsmechanismus, ohne den Märkte und  Gesellschaften nicht funktionieren und sich nicht reproduzieren können. Auf diese Weise entsteht eine kostengünstige und flexible Care-Arbeiterschaft entlang der sozialen Ungleichheitsachsen von Geschlecht und Klasse, aber auch entlang ethnisierter, rassifizierter und Nord-Süd-Unterschiede. Die einzelne Sorgearbeiter:in ist  auf den transnationalen Märkten gezwungen, sich als Unternehmer:in ihrer Care-Kapazität aufzustellen und zu verkaufen.

Eine neoliberale Zuspitzung besteht in der Annahme, dass jeder Mensch selbstverantwortlich den eigenen Körper, das Human- und Sozialkapital sowie die eigene Reproduktion optimieren und ökonomisieren kann. Hier setzt sich der Grundkonsens westlicher Gesellschaften fort, dass Natur und auch die eigene Natur prinzipiell beherrschbar sind. In Bezug auf die Körper soll dies von der vorgeburtlichen Diagnostik über die Tracking-Uhr (mit Menstruationskalender) bis zur robotergeleiteten Mobilität im Alter technisch und algorythmisch machbar sein. Autonomie statt Abhängigkeit und Interdependenzen der Individuen. Melania Trumps Jacke mit der Aufschrift »I Really Don’t Care. Do U?« steht für diese beziehungs- und rücksichtslose Freiheit des Individuums, den Prototyp des neoliberalen Subjekts.

Doch nun kommt die Pandemie als Spielverderberin dieser Fortschrittsfiktion daher. Sie torpediert die Trennung von Produktion und Reproduktion, die rationale Lebens- und Arbeitsplanung, die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse gegenüber Natur, Körper und Sozialem, die Autonomie der Individuen. Das verunsichert und tut weh, weil es Grenzen des Fortschritts durch Wissenschaften, Technik und Algorithmen markiert. Das Virus trifft uns nicht nur im physischen Sinne in Mark und Bein, sondern attackiert unsere gesellschaftliche Identität und zivilisatorisches Selbstverständnis. Die sind tief verankert in einem rationalen Naturbezug und einem nutzenvermehrenden effizienten Wirtschaften und begründen unsere eigene Überlegenheit gegenüber der Natur und den ›anderen‹.

Zwar hatte die zweite Frauenbewegung im Westen Sorge- und Hausarbeit zu einer Verteilungsfrage gemacht, um die Wiederholungsschleife von Arbeit und Geschlecht aufzubrechen. Doch nach Jahren mit Eltern-/Vaterzeit ist der sorgende Mann immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Zu Beginn der Pandemie übernahmen Männer auch mehr Aufgaben beim Home schooling, Tendenz fallend. Covid-19 wirkt als Ursache eines Backlashs in Bezug auf die emanzipatorischen Errungenschaften, die feministische Kämpfe erreicht hatten: Home office und Home schooling revitalisieren traditionelle Geschlechter- und Familienrollen. Care wird ins Private, in die Familie verschoben und gegendert. Die Kernfamilie als Versorgungsinstanz erlebt von Deutschland bis China eine politisch geförderte Renaissance. Während die Figur der multifunktionalen Mutter symbolisch aufgewertet wird, wird die Familie zu einem Kipppunkt für Care-Arbeit: wie auf den Intensivstationen der Krankenhäuser wird auch in der sozialen Intensivstation von Care, in der Familie, Arbeit entgrenzt. Gleichzeitig nimmt die Gewalt mit dem erhöhten Stress durch Home Schooling, durch Zukunftsängste und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit in  Privathaushalten zu. Das System Kleinfamilie ist am Limit.

Der Preis für Gesundheit 

Das Gesundheitssystem, das deutsche wie auch viele andere, steht exemplarisch dafür,  wie das kapitalistische Streben nach Profiten, Effizienz und Wachstum soziale Bereiche durchdringt, die lange jenseits von Markt und Warenwirtschaft organisiert waren. Gesundheits-, Bildungs- und andere Institutionen der Daseinsvorsorge werden zunehmend privatisiert und finanzialisiert. Immer mehr Gesundheitseinrichtungen sind in privater Trägerschaft und Eigentum großer Konzerne oder börsennotierter Aktiengesellschaften. Paradigmatisch für die kommerzielle ›Landnahme‹ des Gesundheitsbereichs ist die Einführung des Fallpauschalensystems in privaten wie auch in öffentlichen Krankenhäusern. Der Dreh- und Angelpunkt für die Neustrukturierung von Versorgungseinrichtungen ist die Buchhaltung. Kliniken und Rehas werden aus der Perspektive der Abrechnung von Einzeldiagnosen und -behandlungen organisiert, und nicht orientiert an den Bedürfnissen und Rechten der Patient:innen. Um ›wirtschaftlich‹ und nicht primär bedarfsorientiert zu arbeiten, wird medizinische und pflegerische Arbeit systematisch der betriebswirtschaftlichen Logik von Effizienz, Konkurrenz und der neoliberalen Spardoktrin untergeordnet. Dazu gehört permanentes Monitoring und digitale Dokumentation sowohl zum Zweck der Buchhaltung als auch zur ständigen Überwachung.

›Wirtschaftlich‹ arbeiten solche Einrichtungen vermittelt über Quantität, Größe und Geschwindigkeit. Die Quantität medizinischer und pflegerischer Leistungen bringt Gewinne, nicht die Qualität. Kostenoptimierung heißt, dass Kapazitäten für Notfälle nicht vorgehalten werden, denn sie gelten als unwirtschaftlich. Kostenoptimierung bedeutet auch, dass Krankenhäuser, die eine Grundversorgung in ländlichen Regionen gewährleisten und nicht auf Operationen spezialisiert sind, abgewickelt werden. Aus diesem Grund werden auch flexible Pflegekräfte von Leasing-Firmen eingesetzt, um Teilaufgaben, Module und Schichten in unterschiedlichen Einrichtungen übernehmen, ohne in den gesamten Pflegeprozess integriert zu werden.

Auch in der Alten- und Krankenpflege gelten Module als Schlüssel zur Umstrukturierung von Arbeit. Module sind eine Methode der Rationalisierung, die Care-Arbeit wie industrielle Arbeit zerteilt und bemisst, dokumentierbar und kontrollierbar macht. Minutentakte und Standardisierung sollen mehr Technikeinsatz, mehr Rationalisierungsgewinn, mehr Professionalität, aber auch Arbeitserleichterung ermöglichen. Sie werden jedoch dem ureigenen Tempo von Sorge- und Pflegearbeit – zum Beispiel beim Füttern von Babies und dementen Personen – übergestülpt, ohne Zeit für Empathie und human touch einzukalkulieren. Streicheleinheiten, Zuspruch und emotionale Arbeit gehen nicht in die Lohnbildung ein und bleiben folglich unbezahlt. Migrantische Kinderbetreuer:innen bauen intensive affektive Beziehungen zu den betreuten Kindern und Alten auf. Keine Ärzt:in stellt nur professionell ein Beatmungsgerät ab, keine Intensivpfleger:in steht ohne Emotionen an einem Sterbebett. Somit organisieren Module Sorgearbeit extraktivistisch, bezahlte Arbeit schließt unbezahlte ständig ein, mit dem Resultat systematischer Unterbezahlung. Diese Verschränkung von unbezahlter und bezahlter Arbeitszeit wird besonders deutlich an der 24/7-Altenbetreuung in Privathaushalten, wo real nur einige Stunden des rund um die Uhr dauernden Bereitschaftsdienstes entlohnt werden.

Kostenminimierung führt zum Raubbau an den Körpern und der Psyche von Pflegepersonal. Sie steigen aus, weil sie die Grenze, die das wachstumsbesessene System überschreitet, in sich tragen und am eigenen Leibe erfahren. Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen sind gezwungen, ständig neues Personal zu rekrutieren, damit die Versorgungslücken nicht noch tiefer aufklaffen.

Verkettungen und neue internationale Sorgearbeitsteilung

Der akute Notstand in Kranken- und Altenpflege wird in Deutschland ganz selbstverständlich durch den organisierten Import von Care-Lohnarbeiter:innen bewältigt. Seit einigen Jahren normalisiert der deutsche Staat mit direkter Anwerbung, aber auch über Job-Messen die transnationale Rekrutierung vor allem von Altenpflegekräften in den Balkanstaaten, in nordafrikanischen und asiatischen Ländern und auch in Mexiko. Der Globale Süden wie auch Osteuropa werden als Supermarkt preisgünstig verfügbarer Arbeitskräfte behandelt, aus denen der Globale Norden Sorgekapazitäten abziehen kann, um die eigene Reproduktionskrise in den Griff zu bekommen. Das ist transnationaler Extraktivismus von Care, der offiziell ›Triple-Win‹ heißt, wonach nämlich Deutschland, die Pflegekraft und das Herkunftsland von dem Deal profitieren sollen. Die Forderung der WHO, kein Gesundheitspersonal aus Ländern zu rekrutieren, die selbst unter einem Mangel an Kräften leiden, wird munter ignoriert.

Am anderen Ende dieser Sorgeketten hatten die Philippinen bereits seit den 1970er Jahren den Export von Hausangestellten und Krankenschwestern zur Entwicklungsstrategie erklärt, um die Erwerbslosigkeit im Land zu reduzieren und vor allem um durch Rücküberweisungen Deviseneinnahmen zu bekommen, mit denen sie Staatsschulden zurückzahlen konnten. Den Philippinen folgten inzwischen eine Vielzahl von Ländern, die die Migration als ›Patriotismus‹ und die Migrantinnen, die ihre Familien zurücklassen, als ›Heldinnen der Nation‹ feiern.

Im wohlhabenden Zielland werden die Migrant:innen als ›andere‹ konstruiert: sie seien psycho-sozial für die Altenpflege prädestiniert, weil in ihren Kulturen die Achtung für und Empathie mit alten Menschen stärker sei als im harschen Individualismus des globalen Nordens; die niedrige Bezahlung sei gerechtfertigt, weil sie im Herkunftsland viel mehr wert sei. Kulturalistisch-symbolische Aufwertung und finanzielle Geringbewertung von Care-Arbeiter*innen bilden ein Tandem.

›Global Care Chains‹ (weltumspannende Sorge-Ketten) gehören längst wie auch globale Produktionsketten zu den Lebensadern  kapitalistischer Globalisierung. Care chains sind aber immer auch care drain and brain drain. Die Sorgekette, die bei uns einen Mangel behebt, reißt am anderen Ende, z.B. in Polen eine Versorgungslücke auf. Während Arbeitskräfte, Ausbildung und Wissen das Land verlassen, werden Versorgungs- und Personaldefizite aus wohlhabenden Ländern und Haushalten in die ärmeren Herkunftshaushalte und -länder verschoben. Dort müssen Sorgearbeiter:innen individuelle Lösungen zur Bewältigung der Unterversorgung finden, durch Mehrarbeit von Verwandten oder Nachbar:innen oder manchmal durch Beschäftigung von noch preisgünstigeren migrantischen Arbeitskräften, in Polen beispielsweise aus der Ukraine. Arlie Hochschild bezeichnet in ihrer Analyse globaler Sorgeketten die Extraktion von Emotionen als neuen Imperialismus, durch den Familien und Kinder im Norden in den Genuss eines emotionalen Mehrwerts kommen. Liebe und Care sind in diesen Ketten die neue Goldwährung. Durch die imperiale Lebens- und Versorgungsweise der globalen Mittelschichten wird anderswo Armut an Versorgung geschaffen, selbst wenn die Armut an Einkommen verringert wird. Das bedeutet eine neue Ungleichheit sozialer Reproduktionsbedingungen, aber auch, dass soziale Reproduktionskrisen und die Chancen zu ihrer Bewältigung höchst ungleich verteilt sind.

Silvia Federici bezeichnet es als Prozess permanenter primärer Akkumulation, wenn Care-Arbeiten aus außermarktlichen Bereichen in die kapitalistischen Märkte integriert werden. Dass dies ein fortschreitender Prozess im Bereich der Reproduktion, auch der biologischen Reproduktion ist, hat Covid-19 ins Rampenlicht gebracht. In Repro-Kliniken in der Ukraine warteten Dutzende von Leihmüttern geborene Babies auf Abholung durch ihre genetischen Eltern. Diese konnten wegen Corona nicht einreisen, um ihr bestelltes, mithilfe von Reproduktionstechnologien zustande gekommenes Kind fristgerecht in Empfang zu nehmen. Auch das ist imperiale Lebensweise.

Bioökonomische Märkte bieten ungewollt Kinderlosen Wertschöpfungsketten mit den notwendigen biologischen Ressourcen, Dienstleistungen, Pharmazeutika und Technologien an: Ei-, Samen- und Stammzellen aus den USA, die notwendigen Hormone vom Pharmakonzern Merck aus Deutschland, eine Leihmutter aus dem Globalen Süden/Osten. Das Verbot von Eizellabgabe und Leihmutterschaft in vielen Ländern führte zur Entstehung eines Fruchtbarkeitstourismus. Auch diese Ökonomisierung eines zutiefst als privat, intim und fern aller privatwirtschaftlichen Verwertung erscheinenden lebensweltlichen Bereichs bedeutet eine ›Landnahme‹ vorher nicht kommerzialisierter Bereiche des Sozialen, von Körper und Natur. Sowohl die nach einer Hormonbehandlung erfolgte Bereitstellung von Eizellen durch eine ›Spenderin‹. als auch die Bereitstellung eines Uterus als Gefäß für das Kind Anderer bedeuten eine Auslagerung von reproduktiver Arbeit und Sorgearbeit. Da Organe und Körpersubstanzen wie Eizellen offiziell nicht als Ware gehandelt werden dürfen, müssen sie altruistisch ›gespendet‹ werden. Die entsprechende Entlohnung trägt das Etikett ›Kompensation‹. So gerät auch die biologische Reproduktion in den Sog von Vermarktung und Verwertung.

Systemrelevanz und Commons

Es bedurfte erst einer Pandemie, damit eine breite Öffentlichkeit die Systemrelevanz von Care-Arbeiten thematisierte. Applaus von allen Rängen für das Gesundheitspersonal. Viele Pflegekräfte haben das Beklatschen jedoch als real-existierenden Zynismus wahrgenommen. Denn sie kämpfen und streiken seit Jahren vergeblich für mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung. In der Corona-Krise gab es manchmal eine Bonuszahlung, in Deutschland erkämpfte ver.di sogar eine einheitliche Mindestlohnregelung für examinierte Pflegekräfte. Zur Freude privater Arbeitgeber verweigerte die Caritas jedoch einen allgemeinen Pflegetarifvertrag, weil sie kirchliche Sonderregeln wie eingeschränkte Mitbestimmung gefährdet sieht, sprich: undemokratische patriarchale Verfahren in kirchlichen Institutionen über fairere Arbeitsbedingungen in der gesamten Branche stellt. Allerdings würde eine etwas bessere Bezahlung auch die neoliberalen Strukturen im Gesundheitssektor nicht grundsätzlich verändern.

In den vergangenen Jahrzehnten politisierten Arbeitskämpfe in den Sozial-, Pflege- und Erziehungsdiensten Sorgearbeit und Arbeitsbedingungen. Den Anfang machten zum Höhepunkt der Finanzkrise 2008/9 die KiTa-Beschäftigten mit der Frage, ob nicht auch sie systemrelevant seien, und nicht nur die Banken. Jenseits von geringer Entlohnung skandalisierten die jüngsten Proteste wie nie zuvor den Mangel an Anerkennung und Wertschätzung und forderten dabei aber gleichzeitig strukturelle Veränderungen wie ein Aufweichen der Pflegemodule und der Fallpauschalenabrechnung.

Paradigmatisch waren die Streiks an der Charité in Berlin. 2011 hatte ein Streik Lohnerhöhungen zur Folge, aber auch Personalabbau, was zu einer stärkeren Arbeitsbelastung bei dem verbliebenen Personal führte. Deshalb rückten nachfolgende Streiks mit dem Slogan ›Mehr von uns ist besser für alle‹ die Qualität der Pflege in den Vordergrund. Noch eklatanter brachten 2017 polnische Ärzt:innen die Krise des neoliberalisieren Gesundheitssystems an die europäische Öffentlichkeit mit der Parole, dass sie auch zum Wohl der Patient:innen hungerstreikten. Sie drohten mit Migration in wohlhabendere europäische Staaten.

Während der ersten Welle der Pandemie protestierte medizinisches und Pflegepersonal in vielen Ländern gegen den Mangel an Infektionsschutz und die darin offensichtliche  verwaltungs- und regierungsamtliche Missachtung ihrer Arbeit und ihrer Körper. In afrikanischen Ländern, von Zimbabwe bis Ghana und Nigeria gab es Proteste gegen schlechte Bezahlung und Überbelastung, die auch Folgen des transnationalen Exodus von Gesundheitspersonal sind. Soziale und rassifizierte Ungleichheiten sind tief und folgenschwer in die Gesundheitsversorgung eingeschrieben: In den USA und Großbritannien war unter den Corona-Toten ein überproportional hoher Anteil von Schwarzen. Auch unter dem infizierten Gesundheitspersonal waren in den USA, England und Schweden ebenfalls  überdurchschnittlich viele Schwarze und Eingewanderte. Care und Gesundheitsversorgung sind Fragen sozialer Gerechtigkeit.

Mit der Politisierung von guter Pflege als Allgemeininteresse traten die Sorgearbeitskräfte als politische Subjekte aus der Unsichtbarkeit heraus. Pflegekräfte an vielen Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen in Europa solidarisierten sich und protestierten. Die Botschaft lautet, dass eine hochwertige Versorgung unter den Bedingungen der Pandemie und eine bessere Pflegequalität allgemein unter neoliberalen Bedingungen nicht leistbar sind. Ein gutes Leben hingegen braucht eine hohe Qualität von Versorgung und Daseinsvorsorge. Deshalb sind die Proteste und Streiks des Gesundheitspersonals anti-neoliberal: sie klagen ein wachstumsorientiertes neoliberales Gesundheitssystem an, das krank macht; sie politisieren Care und fordern einen polit-ökonomischen und kulturellen Paradigmenwechsel, der  Rechten und Bedürfnissen der Menschen Vorrang vor Effizienz und Profit gibt.

Ein wesentlicher Schritt in Richtung auf eine Caring Ökonomie und eine öffentliche soziale Infrastruktur als Commons wäre, Care der Profitmacherei auf den Gesundheits-, Erziehungs- und Betreuungsmärkten zu entziehen. Care muss als Gemeinschaftsgut und nicht als Ware auf Gesundheits- und Betreuungsmärkten behandelt werden. Die Proteste und Kämpfe der Gesundheitsarbeiter:innen haben emanzipatorische, transformatorische Potentiale, um Krisen sozialer Reproduktion, die auf den Märkten systemisch mit Anerkennungs-, Zeit- und auch Einkommenskrisen verflochten sind, zu überwinden. Die Spezifik von Sorgekämpfen, das ›gute‹ Leben und die Qualität sozialer Reproduktion zum Gegenstand und Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie, Zeitwohlstand  zur Grundlage zu haben, machen sie anschlussfähig an andere soziale Bewegungen, die alternative Praktiken von Produktion, Reproduktion und Verteilung erproben.

Eine Reihe Publikationen der jüngsten Vergangenheit politisieren Sorgearbeit als Frage von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Bürgerschaftlichkeit. Das kürzlich veröffentlichte ›Care Manifesto‹ fordert einen radikalen Paradigmenwechsel in sechs Feldern, nämlich Politik, Familie, Gemeinde, Staat, Ökonomie und Welt. Es will Care im Sinne von Sich-Kümmern und Achtsamkeit zum Dreh- und Angelpunkt machen – statt der Sorg- und Rücksichtslosigkeit des »I really don’t care«. Dabei baut es darauf, Interdependenzen zu akzeptieren und neue solidarische Verbindungen zu schaffen, eigentlich einen ›Social New Deal‹ zu initiieren. Ein Autor:innenkollektiv nennt das ›Ökonomie des Alltagslebens‹, die als Fundament für Gesellschaft und Ökonomie die Daseinsvorsorge und soziale Infrastruktur sichert und globale soziale Rechte einlöst.

Die Pandemie macht schmerzlich erfahrbar, dass Gesundheit ein Gemeingut und weder handelbar noch verhandelbar ist. Eine Freigabe von Patenten und eine commons-basierte Impfstoffproduktion und –verteilung wäre gegenwärtig auf globaler Ebene eine Chance, lebensnotwendige Produkte und Dienstleistungen, Medikamente und Care-Arbeit dem Profit- und Wachstumsbesessenheit auf globaler Ebene zu entziehen und öffentliche Versorgung zu bevorzugen. Bleibt zu hoffen, dass die Pandemie als Hebel wirkt, um die Unvereinbarkeit von Qualitätsversorgung und Verwertung in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu befördern. Die Risse im Corona-Kapitalismus, die offensichtlich geworden sind, müssen weiter aufgesprengt werden.

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Christa Wichterich

Dr. Christa Wichterich ist Publizistin, Entwicklungssoziologin und Geschlechterforscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Globalisierung und Gender, Frauenarbeit, internationale Frauenpolitik, Frauenbewegungen und Ökologie. Ihre geographischen Schwerpunkte sind Süd- und Südostasien, Ost- und Südafrika. Weiterhin ist sie ehrenamtlich aktiv im wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland, im Kuratorium der Stiftung Asienhaus und bei Women in Development Europe (WIDE+). Auf ihrer Webseite ›Femme Global‹ sind viele Texte von ihr verfügbar.