Wohin entwickeln sich Demokratie und Gesellschaft in den USA?

...and now, for something completely different?

»…and now, for something completely different

Mögliche Entwicklungsrichtungen der US-Demokratie und Gesellschaft

von Thomas Greven

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Gibt es überhaupt noch eine Chance, dass die US-amerikanische Demokratie und Gesellschaft die Schicksalswahl 2020 glimpflich überstehen? So merkwürdig es klingt: Nur bei einem klaren Sieg des umstrittenen Amtsinhabers Donald Trump erscheint dies noch möglich, jedenfalls kurzfristig, und das auch nur, wenn dieser nicht nur im Electoral College gewinnt, sondern es gleichzeitig auch keine großen Unklarheiten beim ›popular vote‹ gibt, also bei der landesweiten Auszählung der Stimmen.

Die Ausgangslage

Rekapitulieren wir zunächst kurz die für deutsche Beobachter_innen ungewohnten rechtlichen Ausgangsbedingungen der Präsidentschaftswahl in den USA, die alle vier Jahre am ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November stattfindet. Die landesweite Auszählung der Stimmen spielt in den USA keine entscheidende Rolle. Es kommt vielmehr auf das Wahlpersonenkollegium (Electoral College) an. Alle Einzelstaaten entsenden so viele ›Wahlpersonen‹ in dieses Gremium, das am Ende den Präsidenten oder die Präsidentin tatsächlich wählt, wie sie kombiniert Senator_innen und Abgeordnete im House of Representatives haben. Da alle Staaten der USA zwei Senator_innen und mindestens eine/n Abgeordnete/n nach Washington entsenden, kommen aus den bevölkerungsarmen Staaten überproportional viele ›Wahlpersonen‹; die Stimmen der Amerikaner_innen, die in diesen Staaten leben, sind sozusagen mehr wert als die Stimmen von Menschen in Kalifornien oder New York. Dies gilt auch für die Bewohner_innen des Regierungsbezirks (District of Columbia), die ebenfalls drei Wahlpersonen entsenden, obwohl DC kein Staat ist. In fast allen Staaten gehen nach dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl (›winner takes all‹) alle Wahlpersonen an den Sieger oder die Siegerin. Wichtig ist auch, dass mit den Präsidentschafts- und Kongresswahlen zwar Ämter auf Bundesebene besetzt werden, die Einzelstaaten diese aber nach ihren eigenen Regeln administrativ durchführen.

Diese Ausgangslage und insbesondere die indirekte Präsidentschaftswahl durch das Electoral College gehen auf einen Kompromiss der Verfassungsväter zurück, die einerseits zwischen ›Sklaverei-Staaten‹ und ›freien Staaten‹ und andererseits zwischen bevölkerungsreichen und bevölkerungsarmen Staaten eine Balance herstellen wollten. Letzteres ist auch heute noch relevant. Da die Republikanische Partei in ländlichen Gegenden traditionell stark ist und damit in den meisten bevölkerungsarmen Staaten, verschafft dies Trump einen Vorteil und deshalb kann seine derzeitige Strategie der kompromisslosen Mobilisierung seiner Basis durchaus aufgehen, selbst wenn er die landesweite Wahl noch deutlicher verlieren sollte als 2016. Die meisten Staaten sind zudem nicht ernsthaft umkämpft, weil dort jeweils eine der beiden Parteien strukturell so dominant ist, dass die andere Partei gar nicht mehr ernsthaft versucht, eine Mehrheit zu erringen. Die Wahl wird daher faktisch in nur einigen wenigen Einzelstaaten entschieden, den ›battleground states‹. Dazu zählen Staaten, in denen die Mehrheit traditionell oft wechselt (›swing states‹) z.B. im ›Rostgürtel‹ (›rust belt‹), der angeschlagenen Industrieregionen, insbesondere Michigan, Wisconsin und Pennsylvania sowie in Staaten, in denen sich auf der Basis aktueller Umfragen und Trends oder angesichts jüngster Ergebnisse, z.B. bei lokalen Wahlen, beide Parteien Hoffnung auf einen Sieg machen können.

Die Tragödie der amerikanischen Demokratie

Auf eines kann man sich wohl festlegen: Nach Auszählung aller Stimmen wird der demokratische Herausforderer Joe Biden mit großem Vorsprung vor Donald Trump liegen, darauf deuten die Umfragen und das spiegelt die landesweite Unzufriedenheit mit dem amtierenden Präsidenten wieder, der weder die Pandemie noch die damit zusammenhängende Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in den Griff bekommt – und daran augenscheinlich auch überhaupt nicht interessiert ist. Aber es kommt eben auf das Electoral College an (bei einem Patt in diesem Gremium ginge die Wahl übrigens an Trump, weil sie dann im House of Representatives entschieden würde, mit einer Stimme pro Staat, und die Republikaner_innen dominieren die Mehrheit der Einzelstaatsdelegationen) und dort kann Trump gewinnen. Es ist die zentrale Tragödie der amerikanischen Demokratie, dass die Republikanische Partei seit langem mit einer Strategie der Spaltung und einer Politik der Angst Präsidentschaftswahlen gewinnen kann und in der Folge immer mehr zu einer Partei der Weißen geworden ist.

Auch Trump setzt – wie schon 2016 – darauf, die Angst seiner überwiegend weißen Wähler_innen vor ›plündernden Minderheiten‹ und angeblichen ›trojanischen Pferden des Sozialismus‹ anzuheizen, um in den entscheidenden Staaten genug Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, damit er am Ende im Electoral College vorne liegt. Die ›Black Lives Matter‹-Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt, so berechtigt sie sind, spielen ihm dabei leider in die Hände. Denn obwohl die meisten Proteste friedlich bleiben und es nur in Einzelfällen zu Plünderungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, verweisen die Fernsehbilder immer auf den ungelösten historischen Grundkonflikt der USA: die Geschichte von Sklaverei und Segregation und die fortbestehende strukturelle Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen. Die Republikanische Partei, ursprünglich einmal angetreten, um die Sklaverei zu beenden, nutzt seit den 1960er Jahren insbesondere diese Spaltungslinie, aber auch ihren traditionellen einwanderungsfeindlichen Nativismus und Vorbehalte gegen den Islam (wie früher gegen den Katholizismus), um kulturkämpferisch die schrumpfende weiße Bevölkerungsgruppe zu mobilisieren.

Trump hat die Klaviatur der Spaltung und der Angst also nicht erfunden, er spielt sie nur entschlossener und unbarmherziger, wie auf Steroiden. Das Gewinnen um jeden Preis wurde bereits in den 1990er Jahren vom früheren Sprecher des House of Representatives, Newt Gingrich, gepflegt (›go negative early‹). Diese Härte zeichnet die Republikanische Partei auch nach innen aus; Abweichler_innen werden mit drastischen Worten und Maßnahmen bekämpft und müssen mit einer Herausforderung bei den nächsten Vorwahlen rechnen. Vorwahlen, an denen sich nur die treuesten und damit ideologischsten Parteianhänger_innen  beteiligen, führen ohnehin schon dazu, die Parteien immer weiter von der politischen Mitte zu entfernen. Die Bereitschaft, auch langgediente Volksvertreter_innen mit Unterstützung der Parteibasis zu ersetzen, treibt die Radikalisierung immer weiter an und diese Drohung mit der Wut der Basis hat auch Trump bei der Übernahme der Partei geholfen, gegen den Widerstand zumindest eines Teils des Establishments. Die Demokratische Partei hat inzwischen nachgezogen. Auch hier verlieren mittlerweile langjährige Volksvertreter_innen ihre Vorwahlen, gewöhnlich gegen Herausforderer und Herausforderinnen von links, welche die Parteibasis gegen das moderatere Establishment mobilisieren. Gesellschaftlich hat dies den Effekt, dass Vertreter_innen beider Parteien sich vom Median des Wähler_innenwillens signifikant entfernen.

Die Republikanische Partei hat den Weg der extremen Polarisierung zuerst beschritten und verfolgt diese Strategie bis heute deutlich entschlossener. Sie ist dadurch geschlossener als die ethnisch, kulturell und ideologisch heterogenere Demokratische Partei. Der republikanische Stratege Roger Stone identifizierte Trump früh als jemanden, der die Dämonisierung und Dehumanisierung der politischen Gegner und Minderheiten mit seinem ›celebrity appeal‹ (seine TV-Berühmtheit und Playboy-Bekanntheit) anreichern kann. Dadurch wurde er bei der Verfolgung der traditionellen Spaltungsstrategie effektiver als andere, auch weil ihm jeglicher Respekt vor Institutionen, Traditionen und ungeschriebenen Regeln fehlt. Der Anti-Establishment-Populismus ist dabei nur Theaterdonner, kaum mehr als eine Masche, denn letztlich geht es um die Verteidigung der Privilegien der Vermögenselite. Schon vor Trump hat die Republikanische Strategie der Spaltung die zunehmende Tribalisierung der Gesellschaft in Kauf genommen, insbesondere zwischen Weißen und Schwarzen. Früher als in anderen westlichen Demokratien sind in den USA daher kulturell und politisch fast völlig voneinander abgegrenzte Teilöffentlichkeiten entstanden. Der Vertrauensverlust gegenüber der jeweils anderen Gruppe und ›deren‹ Medien sowie die parteiische Bereitschaft, Aussagen aus der eigenen Gruppe vorbehaltlos zu glauben, wird durch Funktions- und Kommunikationsweisen der sozialen Medien noch verstärkt.

Deshalb ist es auch weiterhin so, dass trotz der ständigen Meldungen über Lügen und Verfehlungen des Präsidenten dessen Umfragewerte vergleichsweise stabil sind. Der traditionelle Medienmechanismus, das öffentlich gemachte Verfehlungen einen Kandidaten beschädigen, greift nicht mehr. Fast niemand ändert noch seine Meinung über den Betroffenen. Und Trump liegt daher auch im Electoral College nicht hoffnungslos zurück – wie 2016 ist es in vielen ›battleground states‹ erstaunlich knapp. Trump scheint mit einer seiner skandalösesten Aussagen (die alleine ihn schon disqualifizieren müsste) richtig zu liegen, dass er nämlich auch vor aller Augen auf der 5th Avenue in New York jemanden erschießen könne, ohne dass dies seiner Beliebtheit schade. Negative Meldungen über den Präsidenten erreichen viele republikanische Wähler_innen schlicht nicht oder nur mit einem konservativen ›spin‹, gekennzeichnet als politisierte Lügen (›fake news‹) eines bösartigen und gleichgeschalteten politischen Gegners. Mit den Methoden des Microtargeting, also der gezielten Ansprache bestimmter Wähler_innengruppen, werden die eigenen Anhänger_innen informiert und mobilisiert, die des Gegners desinformiert und demobilisiert.

Es ist übrigens nicht so, dass die Wähler_innen der Grand Old Party (GOP, so wird die Republikanische Partei oft genannt) einfach nur ›gegen ihre ökonomischen Interessen‹ abstimmen. Dies ist zwar für viele unter ihnen tatsächlich der Fall, doch hat die GOP mit ihrem Nativismus, Rassismus und Kulturkampf schlicht erreicht, dass diese Menschen andere als ihre materiellen Interessen höher bewerten, z.T. sogar so hoch, dass sie alles andere überlagern: z.B. das ›Recht auf Leben‹ gegen die Abtreibungsbefürwortenden und damit ›Kinder mordenden‹ Demokrat_innen; das Recht auf Waffenbesitz gegen die, die ›uns die Waffen wegnehmen wollen‹ – allen voran der identitätspolitische Schutz der Interessen der traditionellen, weißen Bevölkerungsmehrheit gegen Demokrat_innen, die immer mehr Immigrant_innen ins Land lassen (und diese angeblich wählen lassen, bevor sie Bürger_innen werden). Den Demokrat_innen wird dabei unterstellt, dass sie damit nur ihre Macht sichern wollen und das Land und seine Traditionen infolge zerstören.

In diese und andere Narrative passen dann auch die vielen Verschwörungsmythen und -erzählungen wie Q-Anon, die von den republikanischen Parteistrateg_innen und von Trump selbst geschickt zur Mobilisierung genutzt werden, ebenso wie die gewaltbereiten Extremist_innen der weißen Überlegenheitsideologie (›white supremacy‹). Außenpolitik und Außenhandelspolitik (›America First‹) spielen auch noch eine Rolle, wobei sich Trump hier am ehesten von traditionellen Republikanischen Positionen absetzt, um den Unmut der Industriearbeiter_innen über die Globalisierung und insbesondere über die chinesische Verdrängungskonkurrenz zu bedienen. Klassisch republikanisch ist jedoch der Kern der Trumpschen Politik: Steuersenkungen und Deregulierung im Interesse der Wohlhabenden und Unternehmen und zum Schaden derjenigen, die sich den in der Folge fehlenden staatlichen Schutz nicht privat selbst finanzieren können – darunter auch das Gros der Republikanischen Wähler_innen.

Die Schimäre der ›strukturellen Mehrheit‹ der Demokratischen Partei
Die Demokrat_innen  sind an der zunehmenden Tribalisierung der amerikanischen Gesellschaft und Politik übrigens nicht unschuldig. Die von ihnen ebenfalls betriebene apokalyptische Dämonisierung des politischen Gegners erscheint allenfalls empirisch begründeter, angesichts der autoritären, demokratiefeindlichen Tendenzen Trumps, der insbesondere das Justizministerium für seine Zwecke instrumentalisiert hat und wohl auch nicht davor zurückschreckt, Begnadigungen für noch zu begehende Rechtsbrüche zu versprechen. Aber für Republikaner_innen sieht die im Rahmen von Black Lives Matter erhobene Forderung ›Defund the Police‹, d.h. nach Senkung der Polizeibudgets (zugunsten von Sozial- und Gesundheitspolitik, aber das kommt bei ihnen nicht an), eben auch nach Extremismus aus. Und auch die Demokrat_innen betreiben ›Identitätspolitik‹ bei gleichzeitigem Schutz von Besserverdienenden und Vermögenden, aber eben mit umgekehrten Vorzeichen. Sie mobilisieren eben nicht konsequent ökonomisch Benachteiligte, um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, sondern konzentrieren ihre wahltaktischen Hoffnungen auf den demographischen Wandel, der aus den USA mittelfristig eine ›majority-minority-society‹ machen wird, in der die Summe der Menschen aus ethnischen Minderheiten größer ist als die Gruppe der Weißen. Die Neoliberalisierung der Politik der Demokratischen Partei in den 1980er und 1990er Jahren hat dazu geführt, dass ein großer – und wachsender – Teil der weißen ›Arbeiter_innenklasse‹ (d.h. im amerikanischen Kontext: Menschen ohne College-Abschluss) sich von ihnen nicht länger repräsentiert sieht. Die unter Demokrat_innen übliche Herablassung und der ständige Verweis auf den zweifellos vorhandenen Rassismus, Nativismus und Sexismus der weißen und männlich dominierten Arbeiter_innenklasse hilft bei der Lösung der breit dokumentierten materiellen Probleme dieser Schicht (Arbeitslosigkeit, seelische und physische Verwahrlosung, Medikamentenmissbrauch, Übergewicht, frühe Sterblichkeit etc.) nicht weiter. Es hilft auch nicht, diese Probleme gegen die großen Probleme ethnischer Minderheiten aufzurechnen. Der Streit zwischen dem demokratischen Establishment und den ›demokratischen Sozialist_innen‹ um Bernie Sanders, die eine Rückkehr zur sozialdemokratischen Politik des ›New Deal‹ fordern, ist vielleicht u.a. damit zu erklären, dass einflussreiche Teile der verbliebenen, weißen demokratischen Wähler-innenbasis inzwischen schlicht zu reich geworden sind, um sich um die Probleme der weißen Arbeiter_innenklasse kümmern zu wollen, von der sie sich auch kulturell entfernt haben – denn dafür müssten ja u. a. auch ihre Steuern erhöht werden.

Bislang ist die erhoffte strukturelle Mehrheit für die Demokrat_innen jedenfalls nicht zum Tragen gekommen. Die Republikanische Partei profitiert von Institutionen wie dem Electoral College, von Wahlkreiszuschnitten zugunsten ländlicher Gebiete und davon, dass weiße Wähler_innen mehr spenden und verlässlicher zur Wahl gehen. In den Staaten des sogenannten ›rust belt‹, wo der amerikanische Traum unter der Wucht der Globalisierung für viele zerbrochen ist, fehlten Clinton am Ende rund 75.000 Stimmen (umgerechnet ein volles Football-Stadion) zum Gesamtsieg, auch weil sie die Wähler_innen der ›Obama-Koalition‹ nicht ausreichend motivieren konnte, zur Wahl zu gehen.

Angesichts des wachsenden Autoritarismus und offensichtlicher Inkompetenz der Regierung Trump können die Demokrat_innen wohl darauf hoffen, dass auch der wenig mehr als eine Rückkehr zur Normalität versprechende Joe Biden dieses Mobilisierungsproblem löst – jedenfalls landesweit. In den republikanisch regierten Einzelstaaten kommt jedoch ein Problem hinzu. Teil des Wahlkampfinstrumentariums der GOP ist es, mit allen juristischen und administrativen Möglichkeiten die Wahlbeteiligung von Minderheiten (und z.T. von jungen Amerikaner_innen, nämlich, wenn sie Student_innen sind) zu beschränken, bis hin zur offenen Einschüchterung. Dies geht auf die traditionelle Kritik an den historischen Patronagesystemen der Demokratischen Partei zurück, die insbesondere in von Immigrant_innen bewohnten Stadtvierteln Jobs gegen Stimmen vergab und z.T. (so der Vorwurf) auch Nicht-Bürger_innen die Stimmabgabe ermöglichte. In jüngerer Zeit gibt es jedoch keine Evidenz mehr für einen solchen Wahlbetrug. Nach 2016 ließ Trump, obwohl ja Wahlsieger, dies aufwändig und ohne Ergebnis überprüfen, weil die drei Millionen Stimmen mehr für Hillary Clinton aus seiner Sicht nur auf Betrug basieren konnten. Gefunden wurde nichts, aber unter den einwanderungsfeindlichen Republikaner_innen hält sich hartnäckig die Vorstellung, Millionen von Wahlbetrüger_innen würden zugunsten der Demokratischen Partei mobilisiert.

Auf dem Weg in eine Bananenrepublik?

Dahinter stand nicht einfach nur der Narzissmus eines ›schlechten Gewinners‹, vielmehr soll die Integrität des ganzen Wahlprozesses in Frage gestellt werden – bei gleichzeitiger Leugnung jeder Einmischung oder Manipulation zugunsten von Trump. Dazu passt die Strategie der Diskreditierung der Briefwahl (und ihrer organisatorischen Behinderung durch Kürzungen bei der bundesstaatlich geführten Post), obwohl diese in der Pandemie überlebensnotwendig erscheint. Trump kann mit gutem Grund darauf setzen, dass seine Basis physisch zur Wahl gehen wird. Daran hat auch die Enthüllung über seine frühe Kenntnis der Pandemie-Gefahren und ihre gezielte Verharmlosung und Vertuschung durch den bekannten Journalisten Bob Woodward nichts geändert. Trumps Basis verhält sich wie ein Kult, der seine Erkrankung am Covid-19-Virus nicht auf sein unvorsichtiges Verhalten zurückführt, sondern im Gegenteil seine (vermeintlich schnelle) Heilung als Zeichen seiner Auserwähltheit interpretiert. Insgesamt wird der Boden bereitet für juristische Anfechtungen des Wahlergebnisses, für politische Zweifel am Verfahren, bis hin zur Mobilisierung von Unruhen. Trump war ein schlechter Gewinner, so dass man davon ausgehen kann, dass er ein noch schlechterer Verlierer sein wird. Wie bereits 2016 kündigt Trump an, nur seinen Wahlsieg zu akzeptieren. Nun aber ist er nicht nur Kandidat, sondern Präsident und Oberbefehlshaber und der Alptraum Trump kann in einer Verfassungs- und Staatskrise enden. So kann es auch nicht überraschen, dass Roger Stone die Verhängung des Kriegsrechts ins Spiel bringt: Aus seiner Sicht, aus Trumps Sicht und aus Sicht einer zunehmenden Zahl republikanischer Amtsträger_innen kann ein anderer Ausgang als Trumps Sieg nur gefälscht sein.

Es gibt viele verschiedene Szenarien, wie Trump versuchen könnte, trotz einer Wahlniederlage im Amt zu bleiben. Einige hat das ›Transition Integrity Project‹ durchgespielt. Es zeigt sich schon jetzt, dass viele Amerikaner_innen von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch machen wollen. Dadurch könnte das Wahlergebnis am Wahltag und auch am Tag danach noch nicht feststehen. Trump könnte dann versuchen, republikanische Gouverneure dazu zu bekommen, ihn frühzeitig zum Sieger in Staaten zu erklären, wo er vor vollständiger Auszählung der Briefwahlstimmen vorne liegt.

Demokratien können sich selbst abschaffen, wenn Bürger_innen Akteur_innen ins Amt wählen, welche Zug um Zug jene Institutionen untergraben, die der Kontrolle und Begrenzung ihrer Macht dienen. In parlamentarischen Demokratien stehen dabei vor allem die unabhängige Justiz und die Medien im Visier. Trump, der im philosophischen Sinne weder Demokrat noch Republikaner ist, sondern ein Möchtegern-Autokrat, hat die demokratischen Institutionen des Landes bereits klar untergraben und zum Teil unter seine Kontrolle gebracht. Insbesondere das Justizministerium agiert inzwischen wie eine Trumpsche Anwaltskanzlei. Womöglich sind die Demokraten cleverer als 2000 und setzen in einem solchen Fall nicht nur auf eine juristische Strategie. Damals akzeptierten sie am Ende eine fragwürdige, eindeutig parteiische Entscheidung des Supreme Court, die Nachzählung der Stimmen in Florida zu beenden und George W. Bush zum Sieger zu erklären, wohl auch, um die Integrität des Systems und der Institutionen zu schützen. Juristische Auseinandersetzungen wird es aber sicher geben und sie sind durchaus offen, weil die Justiz sich noch immer eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt hat. Dies trifft auch für von Republikaner_innen berufene Richter_innen zu. Es bleibt die Hoffnung, dass viele Richter_innen die US-Demokratie bewahren wollen. Aber auf den Supreme Court wird sich die Demokratische Partei vermutlich nicht verlassen wollen (zumal Trump nach dem Tod von Ruth Bader Ginsburg vermutlich noch die konservative Richterin Amy Coney Barrett einsetzen kann). –Die Partei wird diesmal wehrhafter sein und Menschen auf die Straße bringen.

Anderseits scheint die GOP inzwischen zu allem bereit zu sein, um an der Macht zu bleiben. Daher steht sogar die Frage im Raum, ob es zu politischer Gewalt kommen wird. Die International Crisis Group, die im Regelfall Konfliktländer im globalen Süden beobachtet, hält dies für zunehmend wahrscheinlich. Auf der ›Straße‹ hat die GOP aber auch einen Vorteil: Die einem Kult ähnliche Trump-Basis besteht zu einem großen Teil aus schwer bewaffneten, weißen Männern, von denen nicht wenige gewaltbereiten, rechtsextremen Organisationen angehören oder Anhänger von Verschwörungsmythen wie Q-Anon sind, deren apokalyptische Endzeitfantasien ebenfalls Gewaltszenarien enthalten.

Man kann also weder die Verhängung eines Ausnahmezustandes durch die korrupte Trump-Regierung nach der Wahl im November ausschließen, noch politische Gewalt auf den Straßen der USA. Vielleicht erleben wir auch noch eine ›October surprise‹, wie man in den USA eine überraschende Entwicklung kurz vor den Wahlen nennt. Es ist Trump leider zuzutrauen, dass er wegen schlechter Umfragewerte einen internationalen Krieg anzettelt, um vom Phänomen des ›rally around the flag‹ zu profitieren.

Woher kommt es, dass Trump und die Republikanische Partei so viel kompromissloser vorgehen? Warum ist ihr Hass auf den politischen Gegner so viel expliziter? Ein nobles ›when they go low, we go high‹, wie es Michelle Obama formulierte, ist von Republikanischer Seite nicht zu hören oder zu erwarten, sondern eher ›Nie verteidigen, immer angreifen‹, im Sinne von Roger Stone. Neben der immer wieder explizit oder implizit mit Trump verbundenen ›letzten Chance‹, die Stellung und Macht der weißen Bevölkerungsgruppe und wohl auch der weißen Christen und Christinnen in einer säkularer werdenden Gesellschaft zu erhalten, tritt immer deutlicher ein weiterer Faktor in Erscheinung, der für eine etablierte und stabile westliche Demokratie überraschend und bedenklich ist. Es geht für Trump und viele seiner einflussreichen Anhänger_innen nicht zuletzt auch darum, sich vor Strafverfolgung und Gefängnis zu schützen. Trump, obwohl Angehöriger der Geldelite (allerdings mit Geld aus einer Branche, die mit krummen Geschäften assoziiert wird), verhält sich auch als Präsident wie ein Emporkömmling, der damit hadert, von der Kulturelite niemals akzeptiert worden zu sein. Der Trump-Clan und die ihn umgebenden Nutznießer_innen betreiben Politik als organisierte Kriminalität und müssen den Machtverlust – insbesondere das Begnadigungsrecht des Präsidenten – entsprechend fürchten. Das macht sie extrem gefährlich. Ähnlichkeiten mit ›Bananenrepubliken‹ sind nicht mehr zufällig.

It can happen here!

Auch nach einer Wahlniederlage im November 2020 hätte Trump noch knapp zweieinhalb Monate Zeit, seine Macht zu zementieren, z.B. unter dem Vorwand, die Wahlergebnisse zu überprüfen. Hierbei käme ihm sogar eine erneute russische Einmischung gelegen. In der Übergangszeit bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten im Januar 2021 bleibt der abgewählte Präsident im Amt und kann über die gesamte Bundesregierung verfügen. Das schließt auch das Militär ein, dessen Oberbefehlshaber Trump in dieser Zeit bliebe. Man mag sich die Frage lieber nicht stellen, wie Militär, Nationalgarde und Polizei sich im Fall verhalten würden, dass Trump Befehle zur Verhaftung von Oppositionellen, Journalist_innen und unliebsamen Richter_innen erteilt. Ob die jüngsten Bekenntnisse zur Neutralität des Militärs für die dann notwendige Befehlsverweigerung ausreichen?

›It can’t happen here‹ (›dies ist bei uns nicht möglich‹) war 1935 der Titel eines dystopischen Romans von Sinclair Lewis, der vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise und Nazi-Deutschland eine faschistische USA imaginierte. Wer heute auf Gewaltenteilung, ›checks and balances‹, Recht und Gesetz und auf die demokratische Kultur und Traditionen der USA verweist, übersieht, dass Trump, seine Anhänger und Helfershelfer sowie ein großer Teil der GOP sehr offensichtlich auf all dies nichts mehr geben. Trump betreibt Politik und Justiz nach Gutsherrenart, im Stil eines Mafiabosses, der Loyalität durch die Einmischung in Justizverfahren und Begnadigungen belohnt und jeden Dissens gnadenlos bestraft. Das ohnehin fadenscheinige Versprechen republikanischer Senator_innen, Trump habe durch das (gescheiterte) Impeachment-Verfahren Zurückhaltung gelernt, hat getrogen. Trump sieht nur immer wieder bestätigt, dass er stets mit allem durchkommt, sei es im Geschäftsleben, im Privatleben und nun eben auch mit dem unverhohlenen Bedienen von egoistischen Interessen im höchsten Amt des Staates. Es ist tragisch, dass Trumps Bestehen auf ›absolute Rechte‹ des Präsidenten eine Entsprechung in Artikel 2 der Verfassung findet. Abgesehen von seiner begrenzten Rolle im Gesetzgebungsverfahren ist die Machtfülle des Präsidenten tatsächlich enorm. Trumps ›Der Staat bin ich‹-Gehabe könnte nur ein Kongress begrenzen, der zur Verteidigung der Demokratie seine institutionellen Interessen wahrnimmt (allerdings im Zweifelsfall auch nur mit Unterstützung von Militär und Polizei). Doch die Republikanische Partei ist einerseits zur reinen Interessenvertretung der Weißen geworden und andererseits zum Claqueur eines Möchtegern-Autokraten.

Es geht also für die amerikanische Demokratie ums Ganze, ums Überleben. Auch wenn es viele offene Fragen gibt, z.B. zum Ausmaß der diesjährigen Einmischung aus Russland, zu einer möglichen ›October Surprise‹ sowie zur Pandemie und ihrer Bekämpfung, so können doch verschiedene Szenarien entworfen werden, welche Entwicklung die USA nach der Wahl nimmt.

Szenarien: Trump, Biden, ›?‹

Bei einem klaren Sieg Trumps im Electoral College, bei gleichzeitigem unbestrittenen Ausgang bei der Auszählung der direkten Wähler_innenstimmen, wären die grundlegenden Institutionen der amerikanischen Demokratie zunächst bewahrt, insbesondere wenn es den Demokrat_innen immerhin gelänge, die Mehrheit im House of Representatives zu bewahren und vielleicht zusätzlich die Mehrheit im Senat zu gewinnen. Die ›checks and balances‹, die die Verfassungsväter konzipiert haben, um keinem Staatsorgan zu viel Macht zu geben, könnten weiter greifen, doch bliebe  weiterhin das Problem der gesellschaftlichen Polarisierung und Tribalisierung ungelöst und die GOP hätte auch keinerlei Anreiz, daran etwas zu ändern. Trump würde die Aushöhlung der amerikanischen Demokratie und des Rechtsstaats fortsetzen und vermutlich versuchen, eine Dynastie zu begründen. Bis vor kurzem war Tochter Ivanka hierfür klare Favoritin: dies hätte den taktischen Vorteil, mit der ›ersten Präsidentin‹ punkten zu können. Doch Trumps Sohn Donald Jr. versucht in jüngster Zeit, sich mit aggressiven Auftritten in die erste Reihe zu spielen.

Auch bei einem Sieg Bidens und Trumps (unwahrscheinlichem) Eingestehen seiner Niederlage, gegebenenfalls nach juristischen Auseinandersetzungen (übrigens: sind diese bis zum Tag der Amtseinführung nicht geklärt, würde die mutmaßliche Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, als dritte Frau im Staate übergangsweise Präsidentin) bliebe die amerikanische Gesellschaft tief gespalten. So wie die Präsidentschaft Barack Obamas nicht zu einer ›post-racial society‹ geführt hat, sondern im Gegenteil den Extremismus der weißen Überlegenheitsfanatiker_innen angeheizt hat, so wäre das Bild von Donald Trump, wie er vom Secret Service aus dem Weißen Haus eskortiert wird, dann vielleicht sogar angeklagt, verurteilt und als erster Präsident im Gefängnis landet, dem ›paranoiden Stil‹ in der amerikanischen Politik (Richard Hofstadter) eher zuträglich. Die Polarisierung der amerikanischen Bevölkerung und Politik ist historisch tief verwurzelt und selbstverständlich nicht einfach durch die Abwahl Donald Trumps aus der Welt zu schaffen.

Die amerikanische Demokratie erfordert, mehr noch als parlamentarische Systeme, die Kompromissfähigkeit der politischen Akteur_innen, weil die striktere Gewaltenteilung regelmäßig zu geteilter Regierungsverantwortung führt und die ›checks und balances‹ auch für die Minderheitenpartei Blockademöglichkeiten vorsehen. So soll eine ›Tyrannei der Mehrheit‹ verhindert und sollen die politischen Akteur_innen zu Kompromissen angehalten werden. Der dysfunktionalen amerikanischen Demokratie sind allerdings mit der zunehmenden Tribalisierung die gemeinsame Wertebasis und Kompromissfähigkeit abhanden gekommen und dies würde auch die Effektivität einer Regierung Biden massiv einschränken. Was müsste in Politik und Gesellschaft geschehen, um dies zu ändern?

Eine Reihe von institutionellen Reformen sind vorstellbar, aber unwahrscheinlich: Die Beschränkung der Machtfülle des Präsidenten; die Abschaffung oder Modifizierung der die Polarisierung antreibenden Vorwahlen (›Primaries‹); die Abschaffung oder Modifizierung des Electoral College; die Neuaufteilung der Wahlkreise nach der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung durch Expert_innen. Unwahrscheinlich sind diese Reformen vor allem, weil sie die institutionellen Vorteile der GOP auflösen würden. Die Republikanische Partei müsste aus einer Niederlage lernen und sich öffnen. Nach den Niederlagen gegen Obama schien das Establishment für kurze Zeit zu einem Reformkurs bereit, konnte aber gegen die Macht der Basis, die sich in der Kandidatur Trumps kristallisierte, nichts ausrichten. Ein nicht-nativistischer, nicht-rassistischer Kurs der GOP würde vermutlich mittelfristig Raum für eine Dritte Partei eröffnen, in der sich u. a. die Extremist_innen der Weißen Überlegenheit sammeln. Für eine Weile würden im Zweiparteiensystem der USA davon wohl immer die Demokratische Partei profitieren.

Auch diese müsste sich dringend reformieren. Tatsächlich steckt in einer Neuausrichtung der Demokratischen Partei hin zu einer entschlossenen gemeinwohlorientierten, klassisch sozialdemokratischen Politik die größte Hoffnung für eine Überwindung der Tribalisierung. Dafür müssten die Demokrat_innen sich vom ›American Exceptionalism‹ verabschieden und die Republikanische Hegemonie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik überwinden.

Der Amerikanismus bzw. der ›American Exceptionalism‹ ist die Ideologie, welche gewissermaßen als gesellschaftlicher Kitt die sozialen, religiösen und ethnischen Unterschiede einer Migrationsgesellschaft überbrücken sollte. Die Vorstellung, dass die USA sich fundamental von den meist europäischen Herkunftsgesellschaften ihrer Bürger_innen unterscheiden, also keinen Feudalismus und keine Klassen kannte und deshalb auch keinen ›unamerikanischen‹ Sozialismus brauchte, war immer schon empirisch fragwürdig. Der ›American Dream‹ war zu keinem Zeitpunkt für alle zugänglich, ganz offensichtlich nicht für Afro-Amerikaner_innen. Nun führt der zunehmende Tribalismus dazu, dass ein Teil der Mehrheitsgesellschaft verschiedenen anderen Gruppen ihre Zugehörigkeit zum amerikanischen Volk streitig macht. Das war schon so, bevor Trump und die sog. ›Birthers‹ Obamas Staatsbürgerschaft infragestellten, was sich mit der Vizepräsidentschaftskandidatin der Demokrat_innen für 2020, Senatorin Kamala Harris, nun wiederholt. Die Normalisierung, die Biden verspricht, repräsentiert die Sehnsucht des demokratischen Establishments nach einer Rückkehr der einigenden Ideologie des Amerikanismus. Dann bräuchte man sich nämlich nicht mit einer Klassenpolitik à la Bernie Sanders herumzuschlagen.

Dessen im Grunde sozialdemokratische Agenda fordert die republikanische Hegemonie heraus, die darin besteht, dass wesentliche Teile der republikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in den USA unangefochten bleiben, d. h. die Grenzen des Denk- und Machbaren auch der meisten demokratischen Politikerinnen und Wählerinnen bestimmen. Die Demokraten haben in den 1970er und 1980er Jahren die Auseinandersetzung um die Rolle des Staates verloren und einen neoliberalen Kurs eingeschlagen: Steuern senken, den ohnehin rudimentären Wohlfahrtsstaat beschneiden, deregulieren, liberalisieren etc. Auch wenn Umfragen z. B. eine breite Befürwortung von ›Medicare for all‹ anzeigen, also einer für alle geltenden gesetzlichen Krankenversicherung, so bleibt für große Teile der demokratischen Elite eine solche gemeinwohlorientierte Politik nicht viel weniger undenkbar als für die GOP. Das aktuell von der GOP als ›Sozialismus‹ bekämpfte Obamacare-Programm z.B. bedeutet faktisch wenig mehr als erleichterten Zugang zu einer verbesserten privaten Krankenversicherung und ging zurück auf ein Konzept der konservativen Heritage Foundation. Zwar ist die Mehrheit der Amerikaner_innen ›pragmatisch linksliberal‹, wenn es um schon bestehende Programme geht (insbesondere beliebt und politisch offen unangreifbar sind die staatliche Rentenversicherung Social Security und die Krankenversicherung für Menschen ab 65, Medicare), aber den Republikaner_innen gelingt es immer wieder, Misstrauen gegen die Neuschaffung oder Ausweitung sozialstaatlicher Programme zu mobilisieren. Eine sozialdemokratische, statt identitätspolitische Agenda, eine universalistische Politik zur Lösung materieller Probleme ist die einzige Möglichkeit, die tief gespaltene amerikanische Bevölkerung wieder so weit zu einen, dass politische Kompromisse auch über Wertefragen möglich sind. Vielleicht muss sich auch die Demokratische Partei spalten? Vielleicht kommt es dann zu einem Vier-Parteiensystem?

Wahrscheinlicher ist leider ein Szenario der politischen Gewalt. Man möchte das Wort ›Bürgerkrieg‹ vermeiden, aber wenn Trump verliert, das Ergebnis auch nach juristischen Auseinandersetzungen nicht akzeptiert und seine Basis auf der Straße mobilisiert, wird es wohl auf das Verhalten von Militär und Bundesbeamt_innen ankommen. Traditionell wählen viele Soldat_innen epublikanisch. Aufgrund des Verdachts, dass Trump, der selbst seine Einberufung mit fadenscheinigen gesundheitlichen Problemen vermeiden konnte, sich despektierlich über gefallene und gefangen genommene Soldat_innen geäußert hat (›sucker‹ und ›loser‹), sind die Sympathien aber möglicherweise nicht mehr so eindeutig. Über den verstorbenen Senator John McCain, der jahrelang in nordvietnamesischer Kriegsgefangenschaft gefoltert wurde, sagte er einmal: ›Ich mag Soldaten, die sich nicht gefangen nehmen lassen‹. Aber: die Mehrheit der Befehlshaber sind nach wie vor weiße Männer, viele aus den konservativen Südstaaten. Wenn Trump, vermutlich auch nicht wie ein Caesar, die von ihm seit langem gewünschte Militärparade voller ihm ergebener Soldat_innen abnehmen kann (natürlich ohne den in Rom üblichen Einflüsterer, der den Machthaber an seine Sterblichkeit erinnern soll), so kommt seine Botschaft von ›Law and Order‹ weiterhin beim Militär, bei Polizei, FBI und anderen Strafverfolgungsbehörden an, auch weil Trump zugunsten von wegen unrechtmäßiger Gewaltanwendung Verurteilten eingreift. Es steht also zu befürchten, dass auch unrechtmäßige Befehle zunächst befolgt werden. Bleiben die zivilen Karrierebeamt_innen. Als ›deep state‹ von den Republikaner_innen diffamiert, stellen sie tatsächlich das ›permanent government‹ dar. Sie sind jenseits von Wahlen das institutionelle Gedächtnis der Regierung. Jetzt müssen sie vielleicht als institutionelles Gewissen die amerikanische Demokratie retten, mit Arbeitsverweigerung oder Sabotage.

Quo vadis, USA?

Wie ist es zu einer Situation gekommen, in der wir bei einer etablierten Demokratie befürchten müssen, dass ihre wesentlichste Errungenschaft, der friedliche Machtwechsel, fraglich geworden ist? Die USA sind in einer Lage, in der die International Crisis Group politische Gewalt befürchtet, in der der Witz, der 2000 über George W. Bush kursierte und diesen wie den Sprössling einer Drittwelt-Kleptokratie aussehen ließ, bittere Wahrheit geworden ist, angesichts eines Präsidenten, der wie Robert Mugabe in Simbabwe und andere Herrscher in beschädigten Demokratien nicht genehm wählende Gebiete finanziell zu bestrafen droht. Angesichts der unlösbar scheinenden Polarisierung und Tribalisierung, die sich auch bei einem vollständigen Sieg Bidens und der Demokraten eher verschlimmern wird, möchte man eine Versöhnungskommission empfehlen, als handele es sich bei den USA um eine Nach-Bürgerkriegsgesellschaft.

Die Republikanische Partei hat um des Machterhalts willen zugelassen, dass die ohnehin immer schon imperfekte amerikanische Demokratie nun vor dem Abgrund steht, weil ein korrupter Präsident straflos die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen untergraben konnte und nun möglicherweise in der Lage ist, auch eine Wahlniederlage zu überstehen, vielleicht sogar durch Anwendung politischer Gewalt. Ohne die Wähler_innen wäre dies aber nicht gegangen. Die amerikanische Demokratie schafft sich hier möglicherweise selbst ab. Cicero hat argumentiert, dass selbst die eingeschränkten Mitspracherechte einer Republik den Teilhabenden jedenfalls erlauben, keinen schlechten Menschen zum Herrschenden zu machen. Die amerikanischen Wähler_innen haben dies dennoch getan. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde postulierte, dass eine freiheitliche Demokratie ihre normativen Voraussetzungen nicht selbst hervorbringen kann. Wenn die Wähler_innen es so wollen, können diese Normen und die Institutionen, die sie schützen sollen, von gewählten Herrschenden dauerhaft untergraben werden. Die amerikanischen Wähler_innen haben es so gewollt. Am Ende sehen wir dann möglicherweise, wie Ferdinand Lassalle argumentiert hat, dass Verfassungen zunächst einmal nur Papier sind.

 

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Thomas Greven

Dr. Thomas Greven ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, wo er am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien unterrichtet. Zudem ist er assoziiertes Mitglied des Institute for Development and Decent Work an der Universität Kassel und freiberuflicher Politikberater. Derzeit arbeitet er als Referent im Afrika-Referat der Friedrich-Ebert-Stiftung.