Die offenen Wunden der USA vor und nach Trump

Die offenen Wunden der USA vor und nach Trump
Ein Gespräch mit Albert Scharenberg

Vorab aus der bald erscheinenden zweiten Ausgabge der ›GRENZGÄNGERIN‹ mit dem Schwerpunkt ›Mad as Hell – Über die gespaltenen Staaten von Amerika‹.

Donald Trump kam nicht aus dem Nichts. Im medialen Diskurs wird allzu gern unterschlagen, dass die neoliberale Politik der Demokraten – von Clinton, Obama, Biden & Co – die Bedingungen mit geschaffen hat, die den Aufstieg Trumps überhaupt erst möglich machten. Wer die Politik der Republikaner in den Vereinigten Staaten seit den 1980er Jahren untersucht, wird ohnehin Parallelen erkennen, von Reagan über Bush bis zu Trump. Trump ist gewissermaßen die rechtsradikale Sumpfblüte der republikanischen Politik der letzten Jahrzehnte.

Hier gibt es den gesamten Essay zum Download (PDF-Datei).

Donald Trump kam also keineswegs aus dem Nichts, und er war auch nicht ohne direkte Vorläufer. Schon bald nach Ankündigung seiner ersten Kandidatur 2015 wurde er mit George Wallace verglichen. Wallace war mit Unterbrechungen zwischen 1963 und 1987 insgesamt vier Amtszeiten lang Gouverneur Alabamas, eines Bundesstaates des sogenannten ›tiefen Südens‹ (›Deep South‹), zu dem auch Georgia, Louisiana, Mississippi und South Carolina gehören – allesamt Bundesstaaten, deren Ökonomie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von der Landwirtschaft und damit auch von unfreier Arbeit (peonage) der AfroamerikanerInnen geprägt waren. Berühmt und berüchtigt wurde Wallace mit seiner Rede zur Amtseinführung als Gouverneur 1963, als er deklarierte: »Rassentrennung heute, Rassentrennung morgen, Rassentrennung für immer« , sowie mit der Szene, als er im selben Jahr den Eingang an der Universität von Alabama blockierte, um die Integration schwarzer Studierender dort zu verhindern. Wallace wurde auf diese Weise zum Bollwerk des tief verwurzelten und organisierten Rassismus gegen die Bürgerrechtsbewegung und gegen die Anstrengungen der bundestaatlichen Politik, die gesetzliche Rassentrennung im Süden zu beenden. Zwischen Wallace und Trump gibt es viele Parallelen, die bis in die Rhetorik reichen.

Wallace bewarb sich insgesamt vier Mal um die Präsidentschaft, allerdings erfolglos. Nicht zufällig sind die Staaten, deren Wahlmänner-Stimmen er bei seiner folgenreichsten Präsidentschaftskandidatur 1968 gewann, heute Teil der unbeirrbaren Unterstützerbasis von Donald Trump. Das Besondere an Trump ist denn auch die wichtigste Gemeinsamkeit dieser beiden Politiker: Trump ist seit Jahrzehnten, im Grunde seit Wallace, der erste Präsidentschaftskandidat, der offenen Rassismus vertritt. Alle anderen haben ihre rassistische Ansprache codiert vorgetragen, ihre Botschaften in Worthülsen gesteckt, die auf die Hautfarbe verwiesen, ohne sie direkt zu benennen.

Es gibt allerdings auch wichtige Unterschiede zwischen Trump und Wallace, auf die BeobachterInnen hingewiesen haben. Etwa wird bei Trump immer wieder vermutet, dass es ihm mindestens so auf die Aufmerksamkeit ankomme, wie auf die politische Macht und er sich für viele Inhalte der Politik im Grunde kaum interessiere. Bei Wallace hingegen war es umgekehrt. Mit seiner Kandidatur für die Präsidentschaft im Jahre 1968 ging es ihm weniger darum, das Rennen wirklich zu gewinnen, sondern er wollte lediglich genügend Stimmen gewinnen, um dann im Wahlmänner-Kolleg ein Patt zwischen den Kandidaten Hubert Humphrey (Demokrat) und Richard Nixon (Republikaner) herbeizuführen. Wenn im sog. Electoral College kein Kandidat die Mehrheit der Wahlmänner hinter sich bringen kann, entscheidet nämlich das Repräsentantenhaus mit einer Stimme pro Mitgliedstaat. Wallace hoffte, auf diese Weise hinreichend Verhandlungsmacht zu gewinnen, um die Beendigung der Rassentrennung durch bundesstaatliche Maßnahmen aufhalten zu können. Er scheiterte damit nur relativ knapp, ihm fehlten in einigen Bundesstaaten nur wenige zehntausende Stimmen. Seine ca. zehn Millionen UnterstützerInnen kamen übrigens nicht nur aus dem Süden, sondern fanden sich auch im Nordosten und im Mittleren Westen, wo er teilweise zweistellige Ergebnisse erzielte, etwa in Wisconsin, Indiana, Missouri, Ohio, Delaware und Maryland.

Aber es gibt noch etwas Anderes, das den Mann aus Alabama von Trump unterscheidet: Er wendete sich schließlich glaubwürdig vom Rassismus ab. Ein paar Jahre nach seiner Präsidentschaftskandidatur 1972, in deren Zuge er Opfer eines Mordanschlages wurde, der ihn querschnittsgelähmt zurückließ, vollzog er eine Kehrtwende: Er bat die AfroamerikanerInnen um Vergebung, rekrutierte als Gouverneur schwarze Kabinettsmitglieder und gewann letztlich auch eine Mehrheit afroamerikanischer WählerInnen.

Die Geburt des Phänomens Trump aus dem Geist der radikalisierten Republikanischen Partei

Es lohnt sich, Trumps Wahlkampf-Eröffnungsrede von 2015 noch einmal zu hören, in der er den Rassismus gegen Latinos und Einwanderer bei Teilen der Bevölkerung bedient. Im gegenwärtigen Wahlkampf versucht er nun, von seinem eigenen gigantischen Versagen in der Corona-Pandemie abzulenken, indem er die politische Auseinandersetzung auf das Thema ›Law and Order‹  konzentriert. Überhaupt ist Trump ein Meister der Ablenkung. Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist immer: Direkt nach seiner Wahl 2016 hat er einen außergerichtlichen, millionenschweren Vergleich über die Entschädigung der Opfer der ›Trump University‹ geschlossen. Es wäre DAS Thema des Tages gewesen. Aber was macht Trump? Er schickt seinen Vize, Mike Pence, in eine Vorstellung des Broadway-Stücks ›Hamilton‹ , wo Pence erwartungsgemäß ausgebuht wird. Darüber wurde dann in den Medien tagelang diskutiert; von seinem indirekten Eingeständnis, dass die Trump University ein Betrugsunternehmen war, hat kein Mensch mehr geredet. So etwas muss man erstmal hinkriegen!

Trump ist auch, das darf man nicht vergessen, eine hochmoderne Medien-Kreatur, im Grunde bereits seit den 1980er Jahren. Er hat sich immer um die Nähe zu den Medien bemüht, hat immer viel getan, um Gesprächsthema zu sein und zu bleiben. Seine Ansprache mag für Linke unsympathisch sein, aber sie ist innovativ. Diese Art des rechten Populismus gab es selbst bei Ronald Reagan so nicht. Der mediale Fokus auf ihn überdauerte und überspielte selbst seine diversen Pleiten, einschließlich seiner Casinos in Atlantic City. Er blieb im Spiel, obwohl er – wie viele BeobachterInnen finden – unternehmerisch nicht einmal Mittelmaß war. Das bestätigen auch seine jüngst durch die ›New York Times‹  bekannt gewordenen Steuererklärungen. Ohne seine ab 2004 laufende Reality-Sendung ›The Apprentice‹ (später dann auch ›Celebrity Apprentice‹) wäre seine Präsidentschaft nicht zu denken, sie brachte ihn direkt in die Wohnzimmer der weißen Mittelschicht.

Trump konnte zudem auf Entwicklungen, die in den USA schon länger laufen und wirken, aufsatteln. Organisatorisch sind da die Homogenisierung und Disziplinierung der Republikanischen Partei zu nennen. Früher gab es noch Liberale in der GOP, wie die ›Grand Old Party‹ gerne abgekürzt wird und noch unter Reagan fanden sich unter den republikanischen Kongressabgeordneten Mehrheiten, die zusammen mit den Demokraten – gegen ihren eigenen Präsidenten – den Martin-Luther-King-Day als nationalen Feiertag durchsetzten. Diese GOP war sogar noch relativ lange für Teile des (im Vergleich zur weißen Bevölkerungsmehrheit vergleichsweise kleinen) schwarzen Establishments wählbar gewesen, gerade im Süden, wo historisch die Demokraten die Partei der Rassentrennung waren. Das ist heute alles völlig anders.

Der Rassismus als bestimmende Prägung der Republikanischen Partei geht inzwischen aber auch schon ein halbes Jahrhundert zurück, bis zu Richard Nixon. Bekanntlich hat Nixon die ›Southern Strategy‹ begründet, mit der er die Weißen im Süden gewinnen wollte, die 1968 noch Wallace gewählt hatten. Das hat schließlich auch funktioniert. Seitdem wählt eine solide Mehrheit der weißen US-AmerikanerInnen republikanisch. Die AfroamerikanerInnen dagegen sind größtenteils schon früher zur Demokratischen Partei gewechselt, nachdem sie lange die Republikaner als Partei der Sklavenbefreiung unterstützt hatten.

Nixons Strategie fand einen Nachahmer in Ronald Reagan. Dieser eröffnete 1980 seinen Präsidentschaftswahlkampf ausgerechnet in Philadelphia, Mississippi, wo 16 Jahre zuvor die jungen Bürgerrechtler James Chaney, Andrew Goodman und Michael Schwerner ermordet worden waren. Die drei waren Teil der ›Freedom Summer‹-Kampagne gewesen, die afroamerikanische BürgerInnen im Süden bei der Wählerregistrierung unterstützen sollte; ihre Geschichte ist hierzulande u.a. durch den Film ›Mississippi Burning‹ bekannt geworden. Reagan hielt zum Wahlkampfauftakt in dem Ort ausgerechnet eine Rede über ›states’ rights‹. Offiziell meint das die Verteidigung der Rechte von Einzelstaaten gegenüber der Bundesebene, aber jede und jeder versteht es richtigerweise als Code für die Zurückweisung der Desegregation und Gleichstellungspolitik zugunsten der Schwarzen, die nur mit Hilfe der Bundesregierung durchgesetzt werden konnte. Diese Linie setzte sich in republikanischen Wahlkämpfen fort. So gewann George H.W. Bush 1988 die Wahl auch dank der sogenannten Willy-Horton-Kampagne. Dabei wurde der demokratische Kandidat Michael Dukakis verantwortlich gemacht für ein Gewaltverbrechen, das ein afroamerikanischer Freigänger im Bundesstaat Massachusetts begangen hatte, wo Dukakis seinerzeit als Gouverneur regierte. Trump setzt das fort, zuletzt mit seinen Reaktionen zu den antirassistischen Black-Lives-Matter-Protesten. Trump knüpft auch im Wahlkampf 2020 hieran an: Als er im September den Ort Kenosha im Bundesstaat Wisconsin besuchte, wo kurz zuvor der Afroamerikaner Jacob Blake durch Schüsse der Polizei querschnittsgelähmt verletzt wurde, traf er sich vor großem Medienaufgebot mit der Polizei – nicht aber mit dem Opfer und seinen Angehörigen. Nur wenig später erklärte seine Regierung darüber hinaus die antirassistischen Schulungen für PolizistInnen für beendet.

Die vielen Gesichter des Rassismus

Die Debatte über Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten macht überaus deutlich: ›Rassismus‹ meint nicht nur Einstellungen, die sich bei Leuten individuell finden. Es ist schon schlimm genug und nach wie vor viel zu weit verbreitet, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe abzuwerten. Aber darüber hinaus muss man Rassismus als ein historisch gewachsenes Herrschaftsverhältnis verstehen. Im historischen Rückblick werden seine ökonomischen und sozialen Grundlagen deutlicher. Die ›Rassenhierarchie‹ wurde durch die Gesetzgebung in der Zeit der Sklaverei zementiert. Die Reglementierungen verfolgten dabei auch ganz bewusst das Ziel, eine politische Verbrüderung zwischen den schwarzen Sklavinnen und Sklaven und anderen (weißen) Unterdrückten, die als Unfreie (indentured servants) aus Europa in die nordamerikanischen Kolonien kamen, zu verhindern.

Der Rassismus hat dann aber auch eine eigene Dynamik entfaltet. Er lässt sich nicht einfach aus der Sozialstruktur abzuleiten, sondern lebt in den Köpfen der Leute weiter. Wie Marx schreibt: »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden.«  Mehr noch: Rassismus lebt auch in den Institutionen weiter, nimmt hier ebenfalls ein Eigenleben und eine Eigendynamik an. Durch seine lange Dauer und Bedeutung für die soziale Hierarchie war er alsbald fast allen sozialen Verhältnissen eingeschrieben. Das war zu Zeiten der Institution der Sklaverei im Süden der USA völlig offensichtlich. Aber der Norden war auch keine rassismusfreie Gesellschaft. Der Ku-Klux-Klan etwa war in den 1920er Jahren auch im Mittleren Westen durchaus erfolgreich und organisierte Massen.

War aber einmal der gesetzgeberisch abgesicherte Rassismus offiziell abgeschafft, wurde der verbleibende institutionelle Rassismus, den es offiziell ja nicht mehr geben darf, schwerer zu fassen. Aber er ist da, auch wenn man ihn nicht sieht. Er zeigt sich beispielsweise an der sozial-ökonomischen Dynamik, dass die Hauspreise fallen, sobald AfroamerikanerInnen ins Stadtviertel ziehen. In Chicago etwa errichtete die Stadtpolitik absichtlich ›Grenzen‹ zwischen den weißen und den wachsenden schwarzen Vierteln in Form von Eisenbahnlinien und Highways, um die räumliche Trennung abzusichern. Bekannt ist auch das ganze Arsenal rassistischer Stadtplanung wie ›Zoning‹ und ‹Redlining‹ der Flächennutzungspläne, die nur (seltener von Schwarzen bewohnte) Einfamilienhäuser und keine (häufiger von AfroamerikanerInnen bewohnte) Apartmentblocks zulassen, oder die Verweigerung von Krediten für Hausbau und Wohnungseigentum. Wenn doch Kredite an schwarze Familien vergeben wurden, geschah das oft mit drakonischen Vertragsklauseln, etwa solchen, dass bereits bei einmaligem Nichtzahlen einer Rate das Haus direkt ans Kreditinstitut zurückfiel. Natürlich gab es massenhaft Fälle, in denen Familien auf diese Weise ihr Haus verloren, selbst nach zehn oder zwanzig Jahren.

Die formale und informelle Rassentrennung wirkt bis heute nach, etwa bei der Arbeitslosigkeit, die immer noch rund doppelt so hoch liegt wie unter Weißen, oder bei der Armutsrate, die das Dreifache beträgt. Beim Haushaltsvermögen ist der Unterschied zwischen weißen und schwarzen Haushalten mit 20:1 besonders drastisch – was natürlich eine direkte Nachwirkung von Sklaverei und gesetzlicher Rassentrennung ist.

Aus diesen und unzähligen anderen, strukturell bedingten und weiter wirkenden Benachteiligungen nährt sich die Debatte um Reparationen, die seit dem Aufsatz von Ta-Nehisi Coates in der Zeitschrift ›The Atlantic‹ von 2014 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Die Forderung nach Reparationen ist allerdings auch im fortschrittlichen Spektrum nicht unumstritten; sie ist auch technisch schwierig umzusetzen. Reparationen in Form individueller Auszahlungen an AfroamerikanerInnen wären wahrscheinlich relativ wirkungslos und würden an den Strukturen wenig ändern. Aber der Hintergrund massiver struktureller Benachteiligung macht die Forderung doch nachvollziehbar.

Ein weiteres, grundsätzliches Problem von Forderungen zum Ausgleich, zur Kompensation sind die bestehenden Vorbehalte gegenüber den Maßnahmen, die zum Ausgleich der langen und andauernden Benachteiligung bestehen. Das beste Beispiel ist die sog. ›Affirmative Action‹. Hier hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass dadurch Schwarze bevorteilt würden. Dabei sind die größte Gruppe der Nutznießerinnen Frauen bzw. weiße Frauen – was ja im Hinblick auf allseits vorhandene patriarchale Strukturen und die demographische Komposition der Bevölkerung auch gerechtfertigt ist. Die GegnerInnen dieser Programme fokussieren aber immer auf die rassistisch stigmatisierte Gruppe der AfroamerikanerInnen, weil sie damit vorhandene Vorurteile bedienen können.

Die unentrinnbare Ethnisierung der US-amerikanischen Politik

Die US-amerikanische Gesellschaft ist historisch stark ethnisch geprägt; das schließt die unfreiwillige Einwanderung mit ein. Historisch betrachtet tendieren die Einwanderinnen und Einwanderer dazu, sich unter ihresgleichen zu bewegen und zusammenzuschließen. Auch die Politik und die Teilhabe an der Gesellschaft sind entlang ethnischer Zugehörigkeiten organisiert worden. Die Frage der Bündnisse, der Zusammensetzung politischer Koalitionen in der Kommune, entschied sich durch die Kooptation (bzw. Nicht-Kooptation) von Gruppen, die sich ganz überwiegend wiederum anhand ethnischer und nationaler Herkunft organisierten. Die Prägung des Landes als Einwanderungsland, bevölkert von verschiedenen Herkunftsgruppen, legte diese Art der Politik auch sehr nahe. Die Stadtpolitik wurde daher als Terrain für sozialen Aufstieg verstanden und entsprechend genutzt. Prominentes Beispiel sind die Einwanderer aus Irland. Sie galten im 19. Jahrhundert als der letzte Dreck, standen in der sozialen Hierarchie fast so weit unten wie die AfroamerikanerInnen. Ihren sozialen Aufstieg organisierten sie in den Großstädten, indem sie sich dort zusammenschlossen und die politischen Institutionen dominierten – die sog. ›political machines‹ der Demokratischen Partei, die letztlich Koalitionen ethnischer Vertretungen waren. Darüber verschafften sie sich Jobs nicht nur in der Stadtverwaltung, sondern auch bei der Polizei oder der Feuerwehr – letztlich Zugang zu allen Jobs, über deren Besetzung öffentliche Institutionen entschieden. Dies ist die eigentliche Story, wie, um einen Buchtitel zu paraphrasieren, die Iren Weiße wurden.

Mit dieser ethnischen Struktur der Politik – und vor allem mit der Spaltung der Gesellschaft entlang der Hautfarbe – war und ist die US-amerikanische Linke, insbesondere die jenseits der Demokratischen Partei, unentrinnbar konfrontiert. Auf diesem Terrain hat linke Politik in den USA bereits vielfach Niederlagen einstecken müssen. Der Grundkonflikt ist leicht zu beschreiben: Man kann sich nicht farbenblind stellen, darf aber andererseits auch nicht allein darauf gestützt Politik organisieren. Anders ausgedrückt: Man muss eine Ansprache finden, die universalistisch genug ist, aber sich nicht farbenblind geriert. Denn die entscheidende Spaltungslinie in der US-amerikanischen Gesellschaft ist historisch nicht einfach jene zwischen ›Oben und Unten‹, Besitzenden und Nicht-Besitzenden, sondern diejenige zwischen Schwarz und Weiß. Das ist die offene Wunde des Landes, der Knacks im eigenen Selbstbild, den die Politik bisher nie hat kitten können. Ohne die Einsicht, dass die Trennungslinie unserer Zeit die Frage der Hautfarbe ist, wie es W.E.B. DuBois einmal formuliert hat, lässt sich keine starke US-amerikanische Linke aufbauen und folgerichtig hat sich die Linke daran immer wieder die Zähne ausgebissen.

Hier lag vielleicht auch die Achillesferse von Bernie Sanders. Er scheiterte in der Vorwahl der Demokratischen Partei 2020 bekanntlich nicht zuletzt an den afroamerikanischen Wählerinnen und Wählern in South Carolina. Zum einen hatte Barack Obama hinter den Kulissen die Stimmabgabe zugunsten von Joe Biden organisiert. Biden hatte Obama acht Jahre lang als super-loyaler Vizepräsident gedient, was viele Schwarze ihm hoch angerechnet haben. Zum anderen sind die AfroamerikanerInnen im Süden zum hohen Anteil KirchgängerInnen und tendenziell konservativer als AfroamerikanerInnen im Norden und Westen der USA. Auch die schwarzen PolitikerInnen, die diese Communities politisch vertreten, treten zumeist moderater auf als ihre KollegInnen anderswo im Land. Möglicherweise hat Bernie Sanders diese Wählersegmente zu wenig berücksichtigt; ob er sie überhaupt hätte für sich gewinnen können, steht allerdings aus den genannten Gründen in Frage.

Veränderung der politischen Gewichte

Ich sehe keine ›echte‹ republikanische Mehrheit in den USA, wenn man die Manipulationen der Republikaner und ihre strukturelle Bevorteilung durch verschiedene Aspekte des politischen Systems abzieht. Das ›Gerrymandering‹, d.h. das gezielte Zu- und Umschneiden von Wahlkreisen mit dem Ziel der Sicherung eigener Mehrheiten, spielt in einigen Einzelstaaten eine erhebliche Rolle. Hinlänglich bekannt ist das Übergewicht der ländlichen Bevölkerung und dünn besiedelter Landesteile im Senat, in den jeder Bundesstaat zwei Abgeordnete entsendet, ganz gleich ob dort ein paar Hunderttausend oder vierzig Millionen Leute leben. Dieser Zuschnitt des Senats, d.h. die Bevorteilung der ländlichen Räume, war als Teil eines Kompromisses zwischen großen und kleinen Staaten auf der Constitutional Convention (Verfassungskonvent) von 1787 durchaus beabsichtigt. Diese und andere für sie vorteilhafte Mechanismen nutzen die Republikaner ganz gezielt. Die GOP hat dabei durchaus vor Augen, dass die demographische Entwicklung gegen sie arbeitet. Ohne die Latinos stellen die Weißen nur noch um die 60% der Bevölkerung. Und die weißen US-AmerikanerInnen sind keine monolithische Gruppe, sie werden nie alle von der GOP gewonnen. Trump selbst hat im Fernsehen, in seiner Lieblingssendung ›Fox & Friends‹ eingestanden, dass die Republikaner bei Erleichterung der Wahlteilnahme keine Mehrheiten mehr erringen könnten. Die Republikanische Partei hatte nach Obamas Wahlsieg 2008 nur in einem kurzen Zeitfenster angedeutet, sich multiethnisch aufstellen zu wollen. Sie machte 2009 mit Michael Steele zum ersten Mal einen Afroamerikaner zum Vorsitzenden der Parteiorganisation. Aber unter dem Eindruck und dem Ansturm der Tea-Party-Bewegung wurde dann doch wieder der gegenteilige Kurs eingeschlagen. Es wurde wiederum damit gearbeitet, durch mehr oder minder codierten Rassismus die Ressentiments in der weißen Wählerschaft anzusprechen. Seitens der Republikaner werden alle Hebel dafür genutzt, die Zahl der registrierten Wählerinnen und Wähler möglichst klein halten, etwa indem sie die Ausweispflicht fürs Wählen einführen, zugleich aber (wie in Alabama geschehen) in den mehrheitlich nicht-weißen Stadtteilen die Straßenverkehrsämter schließen, weil dort die Leute an ihren Führerschein, das in den USA wichtigste Ausweispapier, kommen; darüber hinaus verfügt ein deutlich höherer Anteil an AfroamerikanerInnen gar nicht über eine Fahrerlaubnis. Dazu kommen dann Absurditäten, wie beispielsweise, dass in Texas ein Waffenschein als Ausweisdokument zum Wählen berechtigt, nicht aber ein Studierendenausweis. Der Grund liegt auf der Hand: Waffenbesitzer neigen den Republikanern zu, Studierende den Demokraten.

In der Zwischenzeit – also bis zu dem Zeitpunkt, an dem der demographische Anteil nicht-weißer US-AmerikanerInnen so groß geworden ist, dass selbst Texas womöglich keine sichere Hochburg der Republikaner mehr, sondern ein ›Battleground State‹ sein wird – entfernt sich das politisch Durchsetzbare unter den künstlichen republikanischen Entscheidungsmehrheiten immer schneller immer weiter von dem, was breite Kreise der Bevölkerung tatsächlich wollen. Umfragen zeigen, dass stabile Mehrheiten sich für eine allgemeine Krankenversicherung, ein gerechteres Steuersystem, ein gebührenfreies Studium, einen höheren Mindestlohn und bessere Kinderbetreuung aussprechen. Politisch umgesetzt wird davon wenig bis nichts.

Die Kontinuität rassistischer Gewalt

Ein weiteres Feld der Politik, auf dem trotz gegenteiliger Erfahrung wenig bis nichts geschieht, ist die rassistische Gewalt. In diese immer breiter klaffende Lücke stoßen Initiativen wie Black Lives Matter (BLM) vor. Dieses Phänomen begann nicht erst unter Trump, wie auch BLM nicht unter Trump entstand, sondern während der zweiten Amtszeit von Barack Obama. Unter Trump erfolgte allerdings eine Zuspitzung. In meinen langjährigen Forschungen zum schwarzen Amerika begegnete mir immer wieder, für die Gegenwart wie für die Vergangenheit, in Berichten aus allen Landesteilen der USA hinweg eine Konstante: Die Nr. 1-Beschwerde der afroamerikanischen Communities war und ist die Polizeigewalt. Es gab und gibt da in den Communities ein breites Gefühl der Ohnmacht, weil es für sie keinen Rechtsstaat gibt. PolizistInnen in den USA können immer noch ungestraft schwarze US-AmerikanerInnen willkürlich festnehmen, verprügeln und sogar töten. Darin konkretisiert sich ganz handfest und gewaltsam Rassismus als Herrschaftsverhältnis. Während der Amtszeit von Obama veränderte sich die Dynamik: Jetzt kannst Du mit Handy-Videos beweisen, dass da willkürliche Polizeigewalt vorlag – aber strukturell ändert sich trotzdem nichts. Und die gefilmten tödlichen Gewaltübergriffe von Polizisten (es handelt sich hierbei eigentlich immer um Männer) geschehen nun unter einem Präsidenten, der den Rassismus anstachelt. Trump sucht hier eben gerade nicht nach einer Lösung, die die BLM-Anliegen aufgreift. Er will die Konfrontation, er wettet geradezu auf den Rassismus innerhalb der weißen Community, um angesichts der Bilder heftiger Auseinandersetzungen auf der Straße mit einem ›Law and Order‹-Wahlkampf zu punkten. Allerdings ist das eine riskante Wette, denn das Land ist heute nicht mehr dasselbe wie zur Zeit von George Wallace. Bei der Wahl Obamas lagen sich 2008 nicht nur AfroamerikanerInnen, sondern auch Weiße in den Armen. Sicherlich haben sich die Illusionen über ein ›Post-racial‹-Amerika aufgelöst, die so manche, nicht zuletzt in den Medien, nach Obamas Sieg hegten. Trotzdem stimmt es, dass einerseits die Weißen keine homogene Gruppe sind, andererseits auch unter den Schwarzen eine Klassenanalyse heute wesentlich komplizierter ausfällt als in den 1960er Jahren.

Wohin entwickeln sich die politischen und sozialen Kräfte in den USA?

Zwischen den Bewegungen, die heute die US-amerikanische Politik antreiben, und ihren historischen Vorläuferinnen haben sich vor allem die Bedingungen geändert. Das ist leicht ersichtlich am Unterschied zwischen der klassischen Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre und Black Lives Matter. Ging es der ersteren um die in Gesetze gegossene Segregation, schlagen sich die heutigen Bewegungen mit Rassismus und Rassentrennung informeller Art herum. Die Polizeigewalt spielte natürlich schon in den 1950er und 1960er Jahren eine Rolle. Aber die Auseinandersetzung mit informellen Strukturen ist schwieriger; die informelle Rassentrennung ist schwerer zu politisieren. Die Diskriminierungen verschwinden nicht einfach mit den Rassengesetzen, sondern die faktische Ungleichheit geht trotz formaler Gleichstellung weiter, sie ist nur weniger evident bzw. schwerer nachzuweisen.

Die Zusammensetzung der AkteurInnen ist heute ebenfalls anders. Das Rückgrat der Bürgerrechtsbewegung des vergangenen Jahrhunderts waren schwarze Kirchgängerinnen und Kirchgänger im Süden. Heute treffen wir in allen Landesteilen auf den Straßen auf eine wirklich bundesweite Bewegung, deren primäre Basis junge schwarze – und weiße – AktivistInnen in den Städten sind. Diese Bewegung ist gleichzeitig, analog zur schwarzen Community insgesamt, von der sozialen Zusammensetzung her viel ausdifferenzierter – man könnte auch sagen: gespaltener – als die Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 60er Jahre.

Verändert hat sich auch das Gewicht fundamentalistischer und paranoider Elemente in der republikanischen Koalition. In den 1960er Jahren war die John Birch Society mit ihren Warnungen vor kommunistischer Unterwanderung noch eine Randerscheinung. Dagegen ist die verschwörungsideologisch begründete QAnon-Bewegung heute bei der Wählerschaft und in der Partei so wichtig, dass ihre AnhängerInnen sogar Vorwahlen gewinnen; sie werden von Trump bewusst hofiert. Unter Trump rücken diese Phänomene, die der Historiker Richard Hofstadter einst als Exemplare eines ›paranoiden Stils‹ in der US-Politik analysierte, bis weit in die etablierten Mittelschichten hinein. Die verschiedenen Krisen, die nacheinander die US-Gesellschaft erschütterten, haben den Resonanzboden für Ansprachen dieser Art ausgeweitet. Die Aufnahmebereitschaft für solche ›paranoiden‹ Weltsichten steigt, je mehr diese Krisen die Leute wirklich treffen. Wenn ihre Selbstverständlichkeiten und das, was sie immer für die Bausteine ihres Glücks gehalten haben, verschwinden, werden sie empfänglich für die Art von Schuldzuweisung, die die verschwörungsideologischen Erzählungen transportieren. Über die verschiedenen Bewegungen, die auf die Republikanische Partei einwirken, haben sich deren Zusammensetzung und das Zusammenwirken ihrer Teile doch merklich geändert. Die alte Reagan-Koalition bestand maßgeblich aus einer christlichen Rechten als ›Fußvolk‹, neokonservativen Intellektuellen und einer wirtschaftsliberalen Elite an der Spitze. Berühmt-berüchtigt ist George W. Bushs Wort bei einem Bankett, dass diese Elite seine ›Basis‹  sei. Das Fußvolk hingegen wurde immer wieder vertröstet, wenn seine Forderungen nicht zum Tragen kamen. Diesen innerparteilichen Paternalismus hat die Tea Party zu Beginn der 2010er Jahre aufgebrochen und ihren Fundamentalismus sogar mit Kandidaturen gegen Vertreter des Parteiestablishments, wie den früheren Fraktionssprecher Eric Cantor, durchgesetzt. Trump grenzt sich nicht nur nicht ab von dieser Basis, er macht sich kulturell mit ihr gemein. Er redet betont vulgär, bezeichnet die Medien als ›Volksfeinde‹  und droht Kritikern Schläge an. Sein Publikum lacht mit, wenn er während einer riesigen Wahlkampfkundgebung einen Witz über Leute mit Behinderungen macht. Sie rufen »Lock her up! Lock her up!« (»Sperrt sie ein! Sperrt sie ein!«) an die Adresse von Hillary Clinton. Trump verzichtet auf die militärischen Abenteuer, die diese Klientel an George W. Bush nicht goutierte (aber er eskaliert etwa den Drohnenkrieg weiter), und besorgt ihnen wie versprochen konservative Richter am Supreme Court, um perspektivisch das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aufzuheben, das bereits aktuell durch republikanische Regierungen in den Einzelstaaten massiv unter Beschuss gerät, einschließlich der Organisation ›Planned Parenthood‹, die Infrastruktur für reproduktive Rechte von Frauen anbietet. Trump verlegt die US-amerikanische Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem, wie es den Präferenzen und dem Glauben der Evangelikalen entspricht. In diesem Sinne gibt es durchaus eine Art von ›Rationalität‹ Trumps, insofern er insbesondere die nicht-ökonomischen Interessen dieser Leute bedient. Hier ist Vizepräsident Mike Pence, der diesen rechtsreligiösen Zirkeln entstammt, sein Gewährsmann. Dennoch handelt es sich hierbei nicht um eine gesellschaftliche Mehrheit, die GOP wird es über kurz oder lang mit dem Problem ihrer strukturellen Mehrheitsunfähigkeit zu tun bekommen.

Demgegenüber besteht das Problem der Demokratischen Partei in ihrer beachtlichen richtungspolitischen Bandbreite. Das ›große Zelt‹, das die Partei darstellt, versammelt inzwischen Leute, die sich in der Bundesrepublik über das gesamte Spektrum von der Merkel-CDU bis zur Linkspartei verteilen würden. Das kann eigentlich nicht funktionieren. Derzeit wird diese spannungsgeladene Konstellation noch überdeckt durch die Aufstellung für die Wahlen Ende 2020, die da lautet »Alle zusammen gegen den Faschismus!«. Man macht es sich zu einfach, wenn man die Demokraten einteilt in Establishment vs. Linke. Die wirkliche Lage ist komplexer: Es gibt die ›New Democrats‹ im Gefolge von Bill und Hillary Clinton und die sog. die Blue Dogs, d.h. die eher konservativen Demokraten aus dem Süden. Man findet weiterhin ein heterogenes fortschrittliches Spektrum von alten ParteigängerInnen des ›New Deal‹, SozialdemokratInnen, dem ›Progressive Caucus‹ im Repräsentantenhaus sowie ebenfalls dort seit 2019 ›The Squad‹ (die jungen linken Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez alias AOC aus New York, Ilhan Omar aus Minnesota, Ayanna Pressley aus Massachusetts und Rashida Tlaib aus Michigan) und schließlich natürlich Bernie Sanders und seine UnterstützerInnen. Die Frage ist, in welche Richtung die Partei sich entwickeln und wer sie repräsentieren wird.

Die Gefahr einer Biden-Präsidentschaft liegt darin, durch ein Regieren zu nahe an den Wünschen des Establishments, wiederum Bedingungen zu schaffen wie jene, die Trump erst möglich gemacht haben. Hier ist sicherlich noch einiges offen. Viel wird davon abhängen, ob die Demokraten unter Biden, so er denn zum Präsidenten gewählt werden sollte, überhaupt eine Mehrheit im Kongress (Repräsentantenhaus und Senat) bekommen. Sollte das der Fall sein, wird Biden durchaus einige fortschrittliche Reformen anstoßen (müssen). Vorstellbar ist eine Profilierung auf zwei, drei wichtigen Feldern, die das System zwar nicht umwälzen, es aber besser abfedern. Kaum zu umgehen dürfte dann etwa die Erhöhung des bundesweiten Mindestlohns sein. Auch einige Schritte in Richtung eines ›Green New Deal‹ wären durchaus vorstellbar. Infrastrukturinvestitionen sind ohnehin überfällig. In diesen Fragen liegt einiges Potenzial..

Bei großer demokratischer Mehrheit könnte die linke Opposition eine wichtigere Rolle spielen. Das Grundproblem der großen Bandbreite wäre damit natürlich nicht gelöst, sondern nur irgendwie bearbeitbar gemacht. Helfen könnte den Demokraten, dass der GOP nach einer verlorenen Wahl erst mal der GAU drohte. Die Republikanische Partei hat sich so weit in die rassistische Ecke manövriert, dass der Weg heraus noch nicht erkennbar ist. Fest steht jedenfalls, dass viel vom Ausgang der Wahl am 3. November abhängt.

 

 

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Albert Scharenberg

Dr. Albert Scharenberg leitet das Historische Zentrum der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Von 2012 bis 2018 war er Ko-Direktor des New Yorker Büros der Stiftung, vorher Redakteur der ›Blätter für deutsche und internationale Politik‹ und Lehrbeauftragter für Nordamerikastudien an der FU Berlin. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen eine Biografie Martin Luther Kings und eine Arbeit über Schwarzen Nationalismus in den USA.