»Es ist wie multiple Choice, aber es ist kein Test«

Über den Film ›Niemals Selten Manchmal Immer‹ von Eliza Hittmann

»Es ist wie multiple Choice, aber es ist kein Test«

Zum Film ›Niemals Selten Manchmal Immer‹ von Eliza Hittmann

 

von Konstanze Kriese

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Der Film Niemals Selten Manchmal Immer (Originaltitel: Never Rarely Sometimes Always) von Eliza Hittman hatte 2020 beim Sundance Film Festival Premiere, lief und gewann im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele in Berlin im Februar, startete am 13. März in den USA und am 1. Oktober 2020 in Deutschland.

Die verständigste, routinierteste und freundlichste Person im Filmdrama berät Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch im liberalen New York durchführen wollen. Wird sie kontaktiert, sind Frauen oft schon tausende Kilometer gefahren um Hilfe zu finden, die ihnen in anderen Bundesstaaten versagt wurde, obwohl – man glaubt es kaum – es in den USA das Recht auf Abtreibung schon seit den 70er Jahren gibt. Kelly, die New Yorker Beraterin im Film, arbeitet mit Organisationen zusammen, die sogar Unterkunft und Finanzierungen anbieten, wenn Frauen nicht krankenversichert sind oder, wie im Falle der 17jährigen Protagonistin des Films, Autumn Callahan, nicht wollen, dass ihre Eltern von der ungewollten Schwangerschaft erfahren. Die Beraterin muss Autumn sagen, dass sie in Pennsylvania um den realen Fortschritt der Schwangerschaft belogen wurde. Stattdessen traktierten Gynäkologinnen ihrer Heimatstadt Autumn mit Ultraschallbildern, Herztönen und der mythisch aufgeladenen Begleitfloskel »Das ist das wohl magischste Geräusch, das Du je hören wirst«. Frauen werden offensichtlich häufig im Glauben gelassen, dass das Zeitfenster für den Schwangerschaftsabbruch noch weit geöffnet ist. Die Beraterin in New York kennt diese Situation. Allerdings hat dieser Betrug Folgen. Autumn muss in eine Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche durchführt, was mit einer schmerzhaften Vorbehandlung zur Öffnung des Muttermundes am Vortag verbunden ist. Dies beschert Autumn unerträgliche Krämpfe und ihr, sowie der sie beinahe wortlos unterstützenden Cousine Skylar, eine weitere Nacht auf Bänken in Bahnhöfen, Zähneputzen in öffentlichen Toiletten. Weniger Schutzraum ist in solch einer Lage kaum denkbar. Bevor diese vorletzte Hürde, die zweite weitgehend durchwachte Nacht von den beiden jungen Frauen mit Streit, einem halbwegs guten Geist und einer der seltsamsten Gesten des Zusammenhaltens ertragen wird, will die Beraterin noch ein paar Fragen stellen, die mit »Niemals – Selten – Manchmal – Immer« beantwortet werden sollen. Bevor sie damit beginnt, sagt sie so aufmunternd wie ernüchternd: »Es ist wie multiple Choice, aber es ist kein Test«.

Alles, was sie dann fragt, geht sie nichts an.

Die verständige, routinierte und freundliche Kelly wird unfreiwillig zur Inquisitorin einer Gesellschaft, die weder Frauen Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen bietet, noch an ihrer Sexualität und der davon unabhängigen Frage reproduktiver Selbstbestimmung interessiert ist. Die Fragen nach Sexualpraktiken, den Formen der Verhütung, der Erfahrung von Druck und Nötigung zu sexuellen Handlungen, geraten zu einer erstklassigen Konstruktion von Frauen als Opfer, Opfer, die zugleich wissen, dass es dafür nie Hilfe gibt, nirgendwo Unterstützung wartet oder gar Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Warum also darüber auch ein Gespräch führen? Genau das findet, obwohl es ohne Einverständnis mindestens ebenso übergriffig wäre, ohnehin nicht statt. Stattdessen soll Autumn auf die Fragen Auskünfte über den gefühltem Häufigkeitsgrad geben, für Statistiken wertvoll, für ihren Seelenzustand traumatisch. Die zwei Kameras auf Autumns Gesicht fangen, dank der schockierend präzise spielenden Sidney Flanigan, die Demaskierung von Politik und Gesellschaft ein, die nur eines kennen: Frauen als Objekt und als Opfer, als Überlebende verschwiegener Angriffe.

Völlig folgenlos wird Frauen im Alltag ›Schlampe‹ hinterhergerufen, beispielsweise vor dem versammeltem Schulauditorium, vor Freund*innen, Eltern, Geschwistern. So auch in der Eingangsszene des Films. Autumn steht funkelnd geschminkt vor einem Auftritt bei einer Schulaufführung. Erprobt, ob solcher Angriffe, beginnt sie, nur einmal noch tief Luft holend, mit ihrer von Autonomie und Drama erzählenden Performance. Fast schon zu viel der Zuwendung kippt sie etwas später dem grinsenden Knaben, der sie gedemütigt hatte, ohne große Zuschauerschar, sein Getränk ins Gesicht.

Der anhaltende Protest der Protagonistin dagegen, mies behandelt zu werden nur weil sie eine Frau ist, besteht nach diesem Auftakt und Feststellen der Schwangerschaft mit einem Billigtest aus dem Supermarkt in einem Familienzentrum, vor allem darin, einer – an sie in diversen Facetten herangetragenen – Opferkonstruktion keinen Millimeter einzuräumen. Sie durchläuft de facto permanent den Multiple Choice-Test einer Gesellschaft, der Frauen selten niemals, eher manchmal oder noch immer reproduktive Rechte, Autonomie und Selbstbestimmung verweigert. Statt einem sicheren Schwangerschaftsabbruch wird Autumn in der Kleinstadt Pennsylvanias eine Adoption offeriert. Sie wird taxiert, kontrolliert, mit Herztönen eines Fötus, den sie sich aus dem Bauch schlagen will, drangsaliert, belogen und abgezockt. Für gewöhnlich kommt sie trotz ihrer Minderjährigkeit bei alledem längst nicht mehr ins Straucheln. Ihre gleichaltrige Cousine kann ohne jede äußerliche Aufregung alles nachvollziehen. Sie klaut Geld im Supermarkt, in dem beide jobben und vom Chef begrapscht werden – und los geht, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben, für Autumn und Skylar eine weite Reise nach New York. Wenn zwei junge Frauen in dieser Lage in einem Überlandbus sitzen, sind Gespräche überflüssig um diese Melange aus fortgesetzter Frustration und Hoffnung auf baldige Hilfe zu untermalen. Jede Minute des ungewöhnlichen Roadmovies ist ein Draufhalten auf ein Seelenleben wie im Schleudertrauma, ein Erleben, das zugleich verdammte ungeheuerliche Normalität vieler Frauen ist. Erst mitten in der Befragung durch die Beraterin in New York, in einem erstmalig weitgehend geschützten Raum, stockt der Atem Autumns nach manchen Fragen, schießen ihr Tränen und Verzweiflung ins Gesicht. »Wurdest Du jemals zum Sex genötigt?« – Pause – »Manchmal«. Wir erfahren an keiner Stelle, trotz Gewalterfahrung, die nicht mit dieser Schwangerschaft zusammen hängen muss und auch nicht durch die vielen anderen Fragen, was der persönliche Grund dieser Abtreibung ist, bis auf Autumns schlichte Ansage: »Ich will noch nicht Mutter werden.« Das ist zugleich einer der größten Punkte des Films, einen Moment erschaffen zu haben, indem die Filmemacherin Haltung einnimmt, denn: Es geht uns einfach nichts an! Es ist und bleibt Autumns Entscheidung, eine Schwangerschaft nicht austragen zu wollen.

Alles, was wir in diesem ›Gespräch‹ erfahren haben, hat mehr oder weniger mit dem Grund ihrer Reise nichts zu tun – auch wenn sich kaum jemand dem Schock entziehen kann, der sich als profaner Alltag vieler junger Frauen entpuppt, nicht nur in den USA.

»Es ist wie multiple Choice, aber es ist kein Test«. Es ist das Leben. Ein Leben, dass Frauen per se diskriminiert, selbst wenn sie Krankenkarten besitzen und entscheiden, nicht Mutter zu werden, noch nicht oder nie sein zu wollen. Wer glaubt, dieser Film erzählt eine Geschichte, die sich so nur in den USA abspielen könnte, täuscht sich in mehrfacher Hinsicht. Universal Pictures International Germany verband die Preview-Veranstaltung am 28. September 2020 mit einem anschließenden online Panel, moderiert von der Taz-Journalistin Erica Zinghler, zu dem die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes Maria Wersig, die Gynäkologin Kristina Hänel und die Beraterin Bärbel Ribbert eingeladen waren.

Wer es noch nicht wusste, konnte es in 45 Minuten erfahren: Auch in Passau führt niemand mehr Schwangerschaftsabbrüche durch. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland nicht Gegenstand der Ausbildung von Gynäkolog*innen, trotz Versorgungsauftrag der Länder. Inzwischen gibt es zwar die Papaya-Workshop-Bewegung der kritischen Medical Students for Choice, doch selbst die – durch ihren Kampf gegen den Paragraphen 219a bekannt gewordene – Kristina Hänel berichtete im Panel, dass sie ihr medizinisches Wissen um Abbrüche von Kolleg*innen aus den Niederlanden erlernt hat.

Der 1933 von den Nazis geschaffene Straftatbestand, der Ärzt*innen Informationen zu Abbrüchen als Werbung auslegt und verbietet, hat auch in seiner Neufassung nichts für die Ärzt*innen verbessert und für Frauen, die zeitnah sachgerechte Informationen suchen, hat sich die Lage weiter verschlechtert. Wer in Hamburg, Berlin, Köln oder München lebt, wo eine entsprechende Beratungsinfrastruktur und die Möglichkeit des Abbruchs noch halbwegs gut erreichbar sind, bekommt nicht mit, dass anderswo die Möglichkeiten seit Jahren schrumpfen und abgebaut werden. Lange Reisen – selbst vor Corona – auch in die Nachbarländer Österreich oder die Niederlande, um Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu lassen, sind seit Jahrzehnten Alltag. Das wiedervereinte Deutschland hat nach Polen und Malta das restriktivste Abtreibungsrecht in Europa. Statt nach der Wiedervereinigung die Fristenlösung der DDR aus dem Jahre 1972 zu übernehmen, die die Indikationslösung bis zur 12. Schwangerschaftswoche ohne Beratungspflicht ablöste, leben wir bis heute in Deutschland mit einem Abtreibungsrecht, das deutlich hinter dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Recht in den USA hinterherhinkt. In dem Panel zum Film fasste Maria Wersig zusammen: Während in den USA das Recht auf Schwangerschaftsabbruch existiert, aber die Möglichkeit der Inanspruchnahme kaum vorhanden ist, gibt es in Deutschland schon dieses Recht nicht. Im Gegenteil. 1993 ergeht vom Bundesverfassungsgericht ein Grundsatzurteil, indem sogar von der »Austragungspflicht« die Rede ist. Juristisch ist in Deutschland die Auffassung repressiver Lebensschützer*innen de facto in Stein gemeißelt. Der Staat hat den Schwangerschaftsabbruch weiterhin unter Strafe zu stellen, um dies mit Regeln zu ergänzen, wie Frau einer Strafe entgehen kann. Das ist die deutsche Rechtslage. Frauen haben sich an das Beratungs- und Fristenmodell zu halten. Kosten werden nicht übernommen, nur in finanziellen Nöten. Insofern sieht Wersig keine großen Unterschiede zum Filmdrama und der Lage in den USA.

Bärbel Ribbert vom Familienplanungszentrum in Hamburg erzählt in der Debatte im Anschluss an den Film, dass derartige Fake-Beratungsstellen, wie sie Autumn in Pennsylvania zuerst ansteuerte, auch hierzulande zur Schwangerschaftskonfliktberatung einladen. Eine Frau, die bei profemina.org war, bekam auf ihre Frage, wie ein Abbruch vonstatten geht, folgende Antwort: »Ja, ob sie Schmerzen haben, wissen wir nicht, aber ihr Kind wird auf jeden Fall Schmerzen haben.« Überdies stellen diese ›Beratungszentren‹ am Ende auch keinen gesetzlich erforderlichen Schein für die ärztliche Behandlung aus. Kristina Hänel stellte in der Debatte klar, dass das Bundesverfassungsgericht, anstatt Frauen in ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit ernst zu nehmen und dies an die oberste Stelle zu setzen, sie auf ihren Uterus reduziert.

Niemals Selten Manchmal Immer zeigt, dass das Patriarchat von Männern wie Frauen getragen wird und was es für jede kommende Generation an seelischer Verwüstung und nötiger Selbstbehauptung bedeutet, ohne auch nur einen Hauch daran geändert zu haben. Auch deshalb ist es bis heute so,  dass es offenbar weh tun muss, wenn eine Schwangerschaft auf Wunsch einer Frau beendet wird, zuerst der Frau selbst, jenseits aller politischen Auseinandersetzungen. Warum einer jungen Frau wie Autumn eine derart brutale Methode des Eingriffs – so wie im Film – angetan wird, obwohl es medikamentöse Eingriffe gibt, die eine 95%ige Erfolgsquote aufweisen und schonender sind, als alle operativen Methoden, hat womöglich zwei bittere Erklärungen. Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch ist aus einer Perspektive des Schutzes der Frauengesundheit die bessere, aber zugleich die preiswertere Methode. Ärzt*innen verdienen daran nichts. Und diese Methode benötigt neben einer selbstgewählten geschützten Umgebung eine bildgebende Nachsorge, die unter einer derart frauenfeindlichen Infrastruktur, wie im Film dargestellt oder auch an vielen Orten in Deutschland zu besichtigen, nicht gegeben ist. Fahren Frauen viele Kilometer, um ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch praktisch zu erkämpfen, so stehen sie unter einem derartigen Zeit- und finanziellen Druck, dass Schutzraum und Nachsorge jenseits der häuslichen Umgebung fehlen, also als weitere Hürden im Spießrutenlauf hinzu kommen. Auf diese Weise treiben Frauen weltweit Raubbau an ihrer Gesundheit und dies ist nur ein Moment der weitgehend versagten reproduktiven Gerechtigkeit.

 

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ist Kulturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin von Grenzgängerin.